Dnistrjans'kyj (Dnistrjanskyj, Dniestrzański), Stanislav (Stanislaus, Stanisław) Severynovyč (1870–1935), Politiker und Rechtswissenschaftler

Dnistrjans’kyj (Dnistrjanskyj, Dniestrzański) Stanislav (Stanislaus, Stanisław) Severynovyč, Politiker und Rechtswissenschaftler. Geb. Tarnopol, Galizien (Ternopilʼ, UA), 13. 11. 1870; gest. Užhorod, Tschechoslowakei (UA), 5. 5. 1935; griech.-kath. Sohn des Gymnasialprofessors und späteren Landesschulinspektors Severyn Dnistrjans’kyj; ab 1901 verheiratet mit der Pianistin Sofija Dnistrjans’ka, geb. Rudnyc’ka (geb. Tarnopol, 24. 10. 1882; gest. Vejprty, Tschechoslowakei/CZ, 9. 2. 1956), der Schwester des im Zuge des stalinistischen Terrors ermordeten Geographen Stepan Rudnyc’kyj. – D. maturierte 1888 und nahm ein Studium der Rechtswissenschaften an der Wiener Universität auf, das er 1893 abschloss; 1894 Dr. iur. 1895 setzte er seine Ausbildung mit finanzieller Unterstützung des Unterrichtsministeriums zunächst in Berlin, ab Ende 1896 in Leipzig fort. Seine Habilitationsschrift „Das Wesen des Werklieferungsvertrages im österreichischen Rechte“ publizierte er 1898 und erhielt im Folgejahr die venia legendi für österreichisches Privatrecht an der Universität Lemberg. Ab 1899 hielt er Vorlesungen auf Ukrainisch. Im selben Jahr wurde er von der historisch-philosophischen Sektion zum wirklichen Mitglied der Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften ernannt, in der er die juridische Kommission gründete und die „Časopys’ pravnyča i ekonomična“ herausgab. 1902 veröffentlichte er die rechtssoziologische Schrift „Zvyčajeve pravo ta social’ni zvjasky“ (deutsch 1905 als „Das Gewohnheitsrecht und die sozialen Verbände“), die unabhängig vom Werk →Eugen Ehrlichs entstand. 1907–18 war D. Mitglied des Abgeordnetenhauses des Reichsrats, wo er der Ukrainischen National-Demokratischen Partei angehörte. Bekanntheit erlangte er hier zunächst durch Initiativen zur Gründung einer eigenständigen ukrainischen Universität und mit Reformvorschlägen zur cisleithanischen Umgangssprachenzählung sowie massiven Protest gegen die Zählung von 1910. Im Vorfeld des Zensus initiierte er 1906 die Gründung der statistischen Kommission der Ševčenko-Gesellschaft, die Anfang 1911 separate Erhebungen zu Sprache und Religion in ostgalizischen Dörfern durchführen ließ. 1909 begründete er den Verein ukrainisch-ruthenischer Advokaten in Lemberg, de facto eine ausgegliederte Fortsetzung der juridischen Kommission. 1910 gab er erstmals die Vereinszeitschrift „Pravnyčnyj vistnyk“ heraus. Während des 1. Weltkriegs war er als Auditor im Rang eines Oberleutnants tätig. Politisch setzte er sich gemeinsam mit anderen Parteimitgliedern für den Verbleib Galiziens und seiner ukrainischen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie ein, unter der Bedingung einer administrativen Abtrennung des mehrheitlich ukrainischen (ost-)galizischen Teils des Kronlands sowie der Errichtung einer eigenständigen ukrainischen Universität. D. publizierte primär in deutscher und ukrainischer Sprache, eine statistisch-geographische Abhandlung zur Pariser Friedenskonferenz erschien auf Englisch („Ukraina and the Peace-Conference“, o. J.), Tschechisch und Französisch. Er verfasste mehrere rechtstheoretische Monographien und entwarf ein Verfassungsprojekt für die Westukrainische Volksrepublik. In der Nachkriegszeit war er an der Gründung der Freien Ukrainischen Universität in Wien beteiligt und fungierte nach deren Verlegung nach Prag ebendort als Professor für Zivilrecht; 1921 Dekan der rechts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, 1922–23 Rektor, 1921–22, 1923–25 sowie 1932–35 Prorektor. 1927 wurde er zum wirklichen Mitglied der Allukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiev ernannt, ab 1929 unterrichtete er auch an der deutschen Universität Prag.

Weitere W.: Zur Lehre vom Verlöbnis, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 33, 1906; Die Stellung der Kronländer im Gefüge der österreichischen Verfassung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Sonderheft: Länderautonomie, 1916; Cyvil’ne pravo 1, 1919; Zahal’na nauka prava i polityky, 1923.
L.: Adlgasser; M. Mušynka, Akademik St. D. 1870–1935, 1992; P. Stecjuk, St. D. jak konstytucionalist, 1999 (mit Bild); H. Binder, Galizien in Wien, 2005, s. Reg.; M. Šafoval, Universitas Libera Ucrainensis, 2011, S. 163ff., 172ff.; M. Rohde, in: Studia Historiae Scientiarum 18, 2019 (online); UA, Wien; Central’nyj deržavnyj archiv vyščych orhaniv vlady ta upravlinnja Ukrajiny, Kyjiv, Central’nyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukrajiny, misto Kyjiv, Central’nyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukrajiny, misto L’viv, Deržavnyj archiv Ternopil’s’koji oblasti, Ternopilʼ, alle UA.
(M. Rohde)  
Zuletzt aktualisiert: 10.12.2019  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 8 (10.12.2019)