Freud Sigmund, Psychiater und Neurologe. * Freiberg (Příbor, Mähren), 6. 5. 1856; † London, 23. 9. 1939. Aus jüd. Familie stammend, kam F. 1859 nach Wien und entschloß sich, beeindruckt vom Darwinismus und von Goethes Fragment „Die Natur“, 1873 zum Medizinstud., 1881 Dr. med. Arbeitete 1876–82 am Wr. physiol. Inst. bei Brücke, 1882–85 als Sekundararzt an verschiedenen Abt. des Wr. Allg. Krankenhauses, auch bei Th. Meynert. 1885 Priv. Doz. für Neuropathologie, gab er durch seine Vorarbeiten über die schmerzbetäubende Wirkung des Kokains 1884 den Anstoß zur Entwicklung der Lokalanästhesie durch seinen Freund C. Koller. 1885/86 arbeitete er an der Salpêtrière in Paris bei J. M. Charcot, 1889 zur Vervollkommnung seiner hypnotischen Technik bei Liébault und Bernheim in Nancy. F., der sich schon bei Charcot mit Problemen der hysterischen Phänomene beschäftigte, arbeitete zuerst gemeinsam mit dem Internisten J. Breuer. Das von Breuer entwickelte „Kathartische Verfahren“ ging davon aus, daß nichtorganische nervöse Störungen bzw. neurotische Symptome durch vergessene Erlebnisse (psychische Traumen) hervorgerufen würden, wobei die Energie eines seelischen Vorgangs von der bewußten Verarbeitung abgehalten und abnorm verwendet, z. B. in die Körperinnervation gelenkt werde (Konversion). Das hysterische Symptom sei also ein Ersatz für einen unterbliebenen seelischen Akt. Durch Reproduktion dieses Erlebnisses in der Hypnose könne der irregeleitete Affekt befreit und auf normalem Wege „abreagiert“ werden, wodurch das Symptom zum Verschwinden gebracht wird. Nach Lösung seiner Zusammenarbeit mit Breuer ersetzte F. die Hypnose in der analytischen Methode durch freie Assoziation, durch die Untersuchung von Fehlleistungen und Trauminhalten und dergl. Für diese besondere Behandlungsmethode neurotischer Leiden schuf er den Namen „Psychoanalyse“. Über seine Theorie der Neurosenentstehung gelangte er aber auch zu grundsätzlichen neuen Anschauungen über das Seelenleben der Gesunden und entwickelte daraus die Wissenschaft von den unbewußten seelischen Vorgängen (Tiefenpsychologie). Trotz heftiger Kritik namhafter Fachgenossen (A. E. Hoche, O. Bumke, E. Raimann, E. Stransky u. a.) stellen die Lehren der Freudschen Psychoanalyse das Fundament der modernen Tiefenpsychologie und Psychotherapie dar: die Triebdynamik, insbesondere des Geschlechtstriebes, seine Kraftäußerung (Libido) und die Fixierung an unbewußte Vorstellungen, die Bedeutung der Sexualsymbole, die Gliederung des seelischen Apparates in ein unbewußtes „Es“, in ein bewußtes, kontrollierendes „Ich“ und in ein „Über Ich“, das – aus dem „Es“ hervorgegangen – das „Ich“ beherrscht und die Triebhemmungen vertritt, die Begriffe von Widerstand, Verdrängung, Zensur, Sublimierung, Regression, Übertragung, Ödipuskomplex usw. – diese Elemente sind zumeist auch von Bedeutung für jene Richtungen geworden, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung von der „orthodoxen“ F.schen Psychoanalyse abgespalten haben, so die „Individualpsychologie“ Alfred Adlers, die „komplexe Psychologie“ C. G. Jungs, die Richtungen von Stekel, von M. H. Göring, die „Existenzanalyse“ V. E. Frankls u. a. Während Freud ursprünglich ganz isoliert dastand, von den Wr. akademischen Kreisen gemieden, seine Lehre von der Fachwissenschaft des Auslandes nicht zur Kenntnis genommen, hatten als erste der Zürcher Psychiater E. Bleuler und dessen damaliger Assistent C. G. Jung etwa seit 1906/07 die Psychoanalyse in die „Schul-Psychiatrie“ einzuführen versucht. Auch andere psychiatr. Schulen, vor allem in den U.S.A., haben in verschiedenem Ausmaße Grundgedanken F.s in ihr Lehrgebäude eingefügt, manche Einzelheiten (z. B. der Pansexualismus, die infantilen Sexualerlebnisse usw.) werden aber auch weiterhin teils von psychiatrischer, teils von fachpsychologischer Seite als Übertreibungen, Überspitzungen, Einseitigkeiten, gewagte und unbewiesene Behauptungen abgelehnt.