Friedjung, Heinrich (1851–1920), Historiker, Politiker und Publizist

Friedjung Heinrich, Historiker, Politiker und Publizist. Geb. Roschtin, Mähren (Roštín, CZ), 18. 1. 1851; gest. Wien, 14. 7. 1920; mos. Sohn des Kaufmanns Bernhard F. und dessen Frau Katharina F., geb. Hertzka. – F. besuchte erst das Wiener Akademische Gymnasium und maturierte dann am Schottengymnasium. Noch während seiner Schulzeit gründete er mit seinen Mitschülern →Viktor Adler und →Engelbert Pernerstorfer einen Freundschaftsverein zur Klärung sozialer Fragen. Danach studierte F. Geschichtswissenschaft in Prag (Burschenschaft Germania), Wien und Berlin sowie 1871–73 am Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien; 1872 Dr. phil. in Wien. Ab 1873 unterrichtete F. an der Wiener Handelsakademie Geschichte und Deutsch. 1876 erschien sein Erstlingswerk „Kaiser Karl IV. und sein Anteil am geistigen Leben seiner Zeit“, im Folgejahr legte er in „Der Ausgleich mit Ungarn“ sein politisches, radikal deutschnationales Bekenntnis ab und übte Kritik an den Altliberalen und am Dualismus von 1867. F. beschwor die deutsche Bestimmung Österreichs und unterstrich die Lebensnotwendigkeit einer innigen politischen Verbindung mit Deutschland. Durch sein Engagement für eine Parteigründung in die Kreise →Georg von Schönerers gelangt, führten F.s Einsatz für diesen sowie seine deutschnationale Agitation zu einer Einstufung als Staatsgefährder durch Minister →Karl von Stremayr sowie zur Entlassung aus dem Schuldienst 1879. Im November 1880 verfasste F. ein Programm zur Gründung der Deutschen Volkspartei, in dem er eine deutsche Staatssprache, die Sonderstellung Galiziens, die Abschaffung der Delegationen, die Erweiterung des Wahlrechts sowie eine progressive Einkommenssteuer forderte. Diese Punkte fanden auch Eingang in das von F. und Adler mitgeprägte Linzer Programm Schönerers von 1882. F.s Forderung nach einer Bundesgenossenschaft und Zollunion mit Deutschland sowie einer Angleichung der Währung unter Beibehaltung des Staatsgebildes führte 1883 zum Bruch mit Schönerer. Entscheidend war diesbezüglich jedoch Schönerers zunehmend radikaler Antisemitismus. F. wandte sich 1883 endgültig dem Journalismus zu, mit der „Deutschen Wochenschrift“ wollte er eine publizistische Brücke zwischen Österreich und Deutschland bauen. Unter den österreichischen Mitarbeitern befanden sich etwa →Richard Kralik von Meyrswalden, →Hermann Bahr, →Ludwig Anzengruber, →Peter Ros(s)egger und →Marie Freifrau Ebner von Eschenbach. F. räumte auch der „Judenfrage“ sowie der Sozialdemokratie breiten Raum ein. Allmählich wandelte er sich zum gemäßigten Deutschnationalen, zum „Groß-Österreicher“, wie er sich nun selbst beschrieb. Um der seiner Meinung nach unbesonnenen Agitation Schönerers entgegenzutreten, bemühte sich F. um die 1885 geglückte Bildung eines Deutschen Klubs der Deutschliberalen Partei im Reichsrat. Er wurde außerdem Chefredakteur des Parteiorgans „Deutsche Zeitung“. Zu seinem schärfsten Gegner avancierte →Otto Steinwender. Zwar scheiterte der Versuch der Antisemiten, F. als Hauptschriftleiter die Missbilligung auszusprechen, die Beratungen führten jedoch zur Spaltung des Klubs in einen liberaler eingestellten Teil, der sich im November 1888 mit dem „Deutsch-österreichischen Klub“ zur „Vereinigten Linken“ vereinigte, und in einen völkisch gesinnten Teil, der im Mai 1888 unter Steinwenders Führung die „Deutschnationale Vereinigung“ gründete. Damit hatte die „Deutsche Zeitung“ ihre finanzielle Grundlage verloren und F. schied als Chefredakteur aus. Er war fortan als Korrespondent in- und ausländischer Zeitungen tätig. 1891–95 versuchte sich F. erneut als Politiker und saß im Wiener Gemeinderat, wo er sich seinen ehemaligen Gegnern, den Altliberalen um →Johann Nep. Prix, anschloss. Nach 1895 trat F. nur mehr als Publizist und Historiker in Erscheinung, wobei er sich v. a. der jüngeren österreichischen Vergangenheit zuwandte, mit dem Entscheidungsjahr 1866 als Fokus. „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859–1866“ (2 Bde., 1897–98) begründete seinen Ruhm als bedeutendster Historiograph seiner Zeit. Als Nebenprodukt seiner Forschungen erschienen 1901 „Benedeks nachgelassene Papiere“, deren Stärke in den damals erst freigegebenen Quellen und in der Befragung der Freunde und Kameraden des Feldherrn lag. 1903 steuerte F. die Darstellung der Periode 1859–66 für den 8. Band von Hans Ferdinands Helmolts „Weltgeschichte“ bei. „Österreich von 1848–60“ (1. Bd. 1907, 1. Tl. des 2. Bd. 1912) blieb ein Torso, Anstoß zu dieser Arbeit gab der Zugang zum Nachlass →Alexander Freiherr von Bachs. 1907 erschien weiters „Der Krimkrieg und die österreichische Politik“. Die Themenstellung, die Folgen der unglücklichen Politik des Außenministers →Karl Ferdinand Graf Buol-Schauenstein, ermöglichte es F., das diplomatische Spiel und Gegenspiel zu beschreiben. Sein Prestige erlitt eine Einbuße, als er zur Zeit der Annexionskrise 1908/09 ihm von →Aloys Graf Lexa von Aehrenthal übergebene serbische Dokumente veröffentlichte, die sich im sogenannten Friedjung-Prozess 1909 als Fälschungen erwiesen. F. betrachtete die Zeit vor dem 1. Weltkrieg als das „Zeitalter des Imperialismus“ (dies zugleich der Titel seines letzten Hauptwerks, 3 Bde., 1919–22), worunter er den Drang der Völker und Machthaber nach einem wachsenden Anteil an der Weltherrschaft, zunächst durch überseeischen Besitz, verstand. Die Herausgabe der Bände 2–3 dieses Werks übernahm F.s Freund →Alfred Francis Pribram. Durch die nach dem 1. Weltkrieg erfolgten Dokumentenveröffentlichungen verlor das Werk jedoch wesentlich an Wert. F. wirkte auch an verschiedenen Sammelwerken mit, war Mitarbeiter →Anton Bettelheims an der „Neuen Österreichischen Biographie“ und veröffentlichte zudem zahlreiche Fachaufsätze. Ebenso ist der Österreich betreffende Teil der „Quellenkunde der deutschen Geschichte“ von Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Waitz (Ausgabe 1912) F.s Werk. Bereits vor dem 1. Weltkrieg ließ sich F. von der „großösterreichischen Idee“ leiten. Die anfänglichen Siege der Zentralmächte erfüllten F. mit deutschnationalem und österreichischpatriotischem Hochgefühl, das in der 1915 mit Gleichgesinnten (darunter →Michael Hainisch) herausgegebenen „Denkschrift aus Deutsch-Österreich“ seinen Ausdruck fand. In diesem seinem letzten politischen Programm wurde zum ersten Mal der „mitteleuropäische Gedanke“ als Zukunftsbild nach dem Sieg propagiert: Ein starker Block der engverbündeten Mittelmächte, eine ökonomische und politische Zusammenfassung Deutschlands, Österreich-Ungarns und Vorderasiens wurde als außenpolitisches Ziel formuliert. Aus einer engeren Verknüpfung der Donaumonarchie mit Deutschland, einer Angleichung unter strenger Betonung der Eigenstaatlichkeit, sollte durch Zollerleichterungen ein zentraleuropäischer Wirtschaftsbund entstehen. Bei den Forderungen nach der inneren Neuordnung der Monarchie ergab sich eine beachtenswerte Diskrepanz zu F.s Broschüre aus 1877 (föderalistisches Denken, Minderheitenrechte). Die Möglichkeit eines Trialismus wurde eingeräumt, jedoch sollten die polnischen und ukrainischen Gebiete aus dem Verband ausscheiden und Deutsch als Staatssprache gesetzlich gesichert werden. Nach dem Zusammenbruch trat F. für einen Anschluss an Deutschland ein, warnte jedoch vor einem neuerlichen Krieg. Ab 1900 war F. Mitglied des Verbands Deutscher Historiker. 1904 Dr. h. c. der juridischen Fakultät der Universität Heidelberg, ernannte ihn die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien 1909 zum k. und 1918 zum w. Mitglied. Er war weiters k. Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Berlin und München.

Weitere W.: Ein Stück Zeitungsgeschichte, 1887.
L.: Almanach Wien 71, 1921, S. 225ff. (mit Bild); Biograph. Jb. 1917–20, 2. Aufl., 1928, S. 535ff.; Santifaller; K. Stolz, Die Männer um das ,Linzer Programm‘ mit besonderer Berücksichtigung des Historikers Dr. H. F., phil. Diss. Wien, 1941; K. Th. Litz, Die historischen Grundbegriffe bei H. F., phil. Diss. Zürich, 1948; E. Zailer, H. F. ..., phil. Diss. Wien, 1949; F. Graf, H. F. und die südslawische Frage, phil. Diss. Wien, 1950; J. Moser, Von der Emanzipation zur antisemitischen Bewegung. Die Stellung ... Schönerers und H. F.s in der Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus in Österreich (1848–96), phil. Diss. Wien, 1962; K. Glaubauf, Bismarck und der Aufstieg des Deutschen Reiches in der Darstellung H. F.s, phil. Diss. Wien, 1979; K. W. Holy, Der Friedjungprozess, DA Wien, 2004; G. Ch. Lind, K. Kraus und H. F., DA Wien, 2004; P. Vivanco, F.s Wien, phil. Diss. Wien, 2015.
(M. Wladika)   
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2017  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 6 (27.11.2017)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 1 (Lfg. 4, 1956), S. 362f.
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