Girkmann, Karl (1890–1959), Bautechniker

Girkmann Karl, Bautechniker. Geb. Wien, 22. 3. 1890; gest. ebd., 14. 7. 1959; röm.-kath. Sohn des Fleischselchers Laurenz Girkmann und seiner Frau Maria Girkmann, geb. Rauchbauer; ab 1926 mit Melanie Girkmann, geb. Steiner, verheiratet. – Nach Besuch der Staatsoberrealschule in Wien 3 nahm G. an der Technischen Hochschule Wien 1908 das Bauingenieurstudium auf. 1915 wurde er zum Kriegsdienst einberufen, den er 1918 als Oberleutnant bei einer Kompanie des k. u. k. Eisenbahnregiments verließ. 1919 beendete er sein Studium mit der II. Staatsprüfung und wirkte bis 1931 in der Industrie: zuerst bei einer Wiener Bauunternehmung im Bahn-, Straßen- und Brückenbau, dann bei der AEG-Union-Elektrizitätsgesellschaft (Wien) im Freileitungsbau (1922–26); anschließend leitete G. das technische Büro der Grazer Wanitsch-Hild-Werke (1926–28) und krönte seine Praxis im Konstruktionsbüro der größten Stahlbaufirma Österreichs, der Waagner-Biró-AG in Wien (1928–31). Seine vielseitigen Projekterfahrungen setzte er konsequent wissenschaftlich um. So wurde er 1925 von der Technischen Hochschule Wien unter der Leitung des Ordinarius für Brückenbau, →Friedrich Hartmann, mit einer Dissertation über den Freileitungsbau zum Dr. techn. promoviert – ein Thema, das G. zusammen mit Erwin Königshofer von den österreichischen Siemens-Schuckert-Werken 1938 in der Monographie „Die Hochspannungs-Freileitungen“ umfassend darstellen sollte. Ein weiteres wissenschaftliches Resultat seiner Industriepraxis ist die zum Paradigmenwechsel von der elastischen zur plastischen Bemessung im Stahlbau beitragende Traglastuntersuchung von Rahmen, in der G. das Fließgelenkverfahren fast vollständig antizipierte. Nachdem die tschechoslowakische Regierung die Besetzung der zweiten Stahlbauprofessur an der Deutschen Technischen Hochschule Brünn durch G. nicht genehmigt hatte, holte ihn Hartmann im Juli 1931 als Assistenten an die Technische Hochschule Wien, wo G. mit einem Beitrag zur Behältertheorie die Lehrbefugnis für Stahlbau erlangte. Im März 1938 folgte er dort →Paul Fillunger auf den Lehrstuhl für Elastizitäts- und Festigkeitslehre. Ab Anfang der 1930er-Jahre bis zu seiner Emeritierung 1958 verlagerte sich G.s Arbeitsgebiet von der Theorie der Stab- auf die Flächentragwerke; über Letztere publizierte er 1946 die erste deutschsprachige Monographie, die zum internationalen Standardwerk avancierte („Flächentragwerke“, 5. Aufl. 1978). Seinem internationalen Ansehen und der Standhaftigkeit wider nationalsozialistische Versuchung ist es zu verdanken, dass G. 1946 von der Internationalen Vereinigung für Brücken- und Hochbau (IVBH) mit der Wiederbegründung einer österreichischen Teilnehmergruppe zum anstehenden IVBH-Kongress betraut wurde. 1948/49 übernahm G. das Dekanat der Fakultät für Bauingenieurwesen und im darauffolgenden akademischen Jahr das Rektorat der Technischen Hochschule Wien. Seine Rektoratsrede über die Festigkeitslehre im Bauwesen ist programmatisch, weil er dort die Grundlegung der industrieorientierten Wissenschaft betont, in welcher der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis durch eine weitgehende Zusammenarbeit zwischen Forschern und praktisch tätigen Ingenieuren aufgehoben sei. 1950 wurde er zum wirklichen Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Weitere Ehrungen folgten: Wilhelm-Exner-Medaille (1953), Ehrendoktorwürde der Technischen Hochschule Graz (1955) und die Goldene Ehrenmünze des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins (1959). G. trug wesentlich zur Ausformung der grundlagenorientierten Festigkeitslehre in praktischer Absicht bei. So legte er den Grundstein zum internationalen Erfolg des heutigen Instituts für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen der Technischen Universität Wien. Dies findet mit der 2008 von der Fakultät für Bauingenieurwesen dieser Einrichtung gestifteten Karl-Girkmann-Medaille seinen Ausdruck.

Weitere W. (s. auch Beer, 1950): Die Knickfestigkeit der Eckstäbe von Raumtragwerken mit ebenen Knoten, in: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure 72, 1928; Bemessung von Rahmentragwerken unter Zugrundelegung eines ideal plastischen Stahles, in: Sbb. Wien, math.-nat. Kl. 140/2a, 1931; Berechnung eines geschweißten Flüssigkeitsbehälters, in: Der Stahlbau 4, 1931; Traglasten gedrückter und zugleich querbelasteter Stäbe und Platten, ebd. 15, 1942; Die Festigkeitslehre im Bauwesen, in: ZÖIAV 95, 1950.
L.: E. Chwalla, in: Almanach Wien 109, 1960, S. 437ff. (mit Bild); NDB; H. Beer u. a., Beiträge zur angewandten Mechanik. Federhofer-G.-Festschrift, 1950, S. IXff. (mit Bild und W.); H. Beer, in: Der Bauingenieur 34, 1959, S. 414f. (mit Bild); K. Karas, in: Der Stahlbau 29, 1960, S. 32 (mit Bild); 150 Jahre Technische Hochschule in Wien 1815–1965, ed. H. Sequenz, 2, 1965, s. Reg. (mit Bild); Eine Sammlung von außerordentlicher Geschlossenheit. Die Rektorengalerie der Technischen Universität Wien, ed. J. Mikoletzky, 2015, S. 125 (mit Bild); K.-E. Kurrer, Geschichte der Baustatik, 2016, S. 125ff., 978f. (mit Bild); Pfarre St. Othmar unter den Weißgerbern, TU (mit Bild und Parten), beide Wien.
(K.-E. Kurrer)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)