Goldscheider, Walter (1879–1962), Unternehmer und Fabrikant

Goldscheider Walter, Unternehmer und Fabrikant. Geb. Wien, 18. 3. 1879; gest. Rottach-Egern (D), 23. 3. 1962 (begraben: Ewing Cemetery, Trenton, NJ, USA); mos. Sohn von →Friedrich Goldscheider und Regine Goldscheider, geb. Schwarz (geb. 1854; gest. Dezember 1918), Bruder von Marcell Goldscheider (1887–1964), Vater von Erwin Goldscheider (geb. Wien, 11. 7. 1912; gest. Jänner 1984); ab 1911 verheiratet mit Lilly Kuschnitzky (gest. 1951); mos. – G. absolvierte eine kaufmännische Ausbildung und trat 1896 in den väterlichen Betrieb Friedrich Goldscheider Erste Wiener Terracotta- und Majolika-Fabrik in Wien 18 ein, der nach dem Tod des Vaters 1897 von seiner Mutter und Alois, dem älteren Bruder Friedrichs, als Prokuristen erfolgreich weitergeführt wurde. Als Firmenmarke wurde ab 1900 eine Allegorie der Bildhauerei, eine sitzende weibliche Figur, geführt. Wie unter dem Firmengründer orientierte sich die Produktpalette der Fabrik an den neuesten Kunstströmungen und modischen Bildwelten und exportierte weltweit. Ab 1905 trat die kleinplastische Fayence in den Vordergrund und verdrängte bis 1910/11 die älteren Terrakottamodelle vollkommen. 1910 wurde G. neben seiner Mutter Gesellschafter der Ersten Wiener Terrakottafabrik und Atelier für künstlerische Fayenzen Friedrich Goldscheider, seine Frau Lilly 1911 Prokuristin. 1912 stieg Bruder Marcell in das Unternehmen ein, der als einziges Familienmitglied eine umfassende künstlerische Ausbildung absolviert hatte, und übernahm die technische und künstlerische Leitung. Die Fabrik, die an die 250 Arbeiter beschäftigte, wurde mit Ausbruch des 1. Weltkriegs kurzzeitig stillgelegt und G. leistete 1914–18 Kriegsdienst. Nach dem Tod der Mutter übernahmen 1920 G. und Marcell die Führung des Unternehmens, wandelten es 1921 in die Wiener Manufaktur Friedrich Goldscheider um und änderten die Firmenmarke auf „WMG“. Während Alois bereits 1923 als Prokurist gelöscht wurde, trat Marcell 1926 wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten mit G. aus dem Familienbetrieb aus und gründete 1928 die Vereinigten Ateliers für Kunst und Keramik Marcell Goldscheider, ab 1931 Marcell Goldscheider Keramik. Als Alleininhaber meisterte G. die wirtschaftlichen Krisen der Zwischenkriegszeit, die andere Keramikfirmen ihr Bestehen kosteten. Er arbeitete mit namhaften Kunsthandwerkern und Bildhauern wie Stephan Dakon, Rudolf Podany, Johanna Meier-Michel, Wilhelm Thomasch, →Walter Bosse oder Rudolf Knörlein zusammen und konzentrierte sich in der Kleinplastik weiterhin auf die populären und mondänen Themenwelten, u. a. Tierdarstellungen, Ikonen der Filmindustrie, Revue-Stars und Ausdruckstänzerinnen, die aus Kino, Bühne und Illustrierten bekannt waren und Goldscheider zu einer Weltmarke der Keramik machten. Viele Kleinplastiken der 1920er-Jahre, wie Josef Lorenzls „Gefangener Vogel“, um 1922, oder Ida Meisingers Terrier „Der Modehund“, um 1928/29, wurden in riesigen Auflagen hergestellt und weltweit vertrieben. 1938 wurde G. inhaftiert und musste sein Unternehmen „verkaufen“; mit Frau und Sohn Erwin emigrierte er über England in die USA. Während die Fabrik unter dem Ariseur Josef Schuster ab 1939 als Wiener Manufaktur Friedrich Goldscheider Nachf., Inhaber Josef Schuster, ab 1941 unter dem Namen Wiener Manufaktur Josef Schuster, vorm. Friedrich Goldscheider weiterproduzierte, arbeitete G. zunächst in einer kleinen Werkstatt in Trenton, New Jersey, und expandierte gemeinsam mit seinem Sohn (ab 1940 American Goldscheider Inc., ab 1942 Goldscheider-Everlast Corporation, ab 1950 Goldscheider Inc., ab 1952 Goldscheider of Vienna Inc.), sodass der Betrieb 1947 über 100 Mitarbeiter zählte. 1949 beschloss die Rückstellungskommission die Rückführung der Manufaktur an G., der die Fabrik (ab 1950 Wiener Manufaktur Friedrich Goldscheider) in Wien vergeblich wiederaufzubauen und eine moderne Kollektion zu entwickeln versuchte. Schließlich verkaufte er die Marke „Friedrich Goldscheider“ 1953 an die Firma E. & C. Carstens in Deutschland, die bis 1960 die moderne Produktlinie herstellte. Die Wiener Manufaktur Friedrich Goldscheider wurde 1954 aus dem Handelsregister gelöscht. In über 70 Jahren waren unter der Marke Goldscheider über 10.000 Modelle, Varianten inbegriffen, in zum Teil massenhafter Auflage seriell produziert worden, die ein breites Publikum ansprachen. 1922 erhielt G. den Titel Kommerzialrat, 1935 das Ritterkreuz des österreichischen Verdienstordens.

W.: s. Dechant – Goldscheider.
L.: Goldscheider Keramik. Historismus – Jugendstil – Art déco, Wien 1985 (Kat.); R. E. Dechant – F. Goldscheider, Goldscheider. Firmengeschichte und Werkverzeichnis …, 2007 (mit Bild und W.); E.-M. Orosz, Breiter Geschmack. Goldscheider. Eine Weltmarke aus Wien, Wien 2007 (Kat.); O. Thormann u. a., Exotik, Verführung, Glamour – Die Weltmarke Goldscheider, Leipzig 2015 (Kat.).
(E.-M. Orosz)   
Zuletzt aktualisiert: 10.12.2019  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 8 (10.12.2019)