Goll, Jaroslav; Ps. Jaroslav Chlumecký (1846–1929), Historiker und Schriftsteller

Goll Jaroslav, Ps. Jaroslav Chlumecký, Historiker und Schriftsteller. Geb. Chlumetz, Böhmen (Chlumec nad Cidlinou, CZ), 14. 7. 1846; gest. Praha, Tschechoslowakei (CZ), 8. 7. 1929. Sohn des Arztes Adolf Goll, Neffe des Unternehmers, Technikers und Philanthropen Josef Daněk, Großvater der Schauspielerin Nataša Gollová (1912–1988), Schwiegervater des Politikers und Industriekaufmanns Bedřich Hodáč (1883–1943). – G.s Mutter war seit 1848 geisteskrank und verbrachte den Rest ihres Lebens in einer psychiatrischen Klinik. Dank der zahlreichen Beziehungen seiner Familie kam G. schon als Kind u. a. mit →Božena Němcová und →Friedrich Smetana in Kontakt. Nach dem Schulbesuch in Königgrätz, Jungbunzlau und Prag (1864 Matura am Akademischen Gymnasium) studierte er an der Universität Prag Geschichte bei →Anton Gindely, →Karl Adolf Constantin von Höfler und →Wácslaw Wladiwoj Tomek. Philologische Vorlesungen hörte er u. a. bei →Martin Hattala und →Jan Kvíčala (1869 Lehramtsprüfung, 1870 Dr. phil.). Zugleich pflegte G. Kontakte mit Literaten und Künstlern. 1870 lehrte er am Gymnasium in Jungbunzlau, 1871 besuchte er in Göttingen historische Vorträge von Georg Waitz. Im folgenden Jahr wurde G. Sekretär des amerikanischen Botschafters und Historikers George Bancroft in Berlin und unternahm eine Forschungsreise nach England und Holland. Ab 1873 unterrichtete er an der Handelsakademie in Prag, 1875 habilitierte er sich an der Prager Universität für allgemeine Geschichte; 1880 ao. Professor (nach der Teilung der Universität 1882 an der tschechischen Fakultät), 1885 o. Professor und 1907/08 Rektor. G. beteiligte sich an der Kontroverse um die sog. Königinhofer und die Grünberger Handschrift und lieferte einen wichtigen Beitrag zum Nachweis ihrer Fälschung („Historický rozbor básní Rukopisu Králodvorského: Oldřicha, Beneše Heřmanova a Jaroslava“, 1886). Seine pädagogische Karriere widmete er ganz der Förderung junger Talente. Der sog. Goll-Schule entstammten führende Historiker verschiedener Ausrichtung und politischer Orientierung, die bis in die 1950er-Jahre das Fach prägten, darunter →Max Dvořák, →Kamil Krofta, Zdeněk Nejedlý, →Václav Novotný, →Josef Pekař, Čeněk Zíbrt und →Josef Šusta d. J., zu dessen Gunsten sich G. 1910 frühzeitig pensionieren ließ. Zusammen mit →Antonín Rezek gründete er 1895 die bedeutende Fachzeitschrift „Český časopis historický“. Studienreisen führten ihn nach Frankreich, Deutschland und Polen. G. war auch politisch tätig (1907–08 Abgeordneter zum böhmischen Landtag, 1909 Ernennung zum Herrenhausmitglied auf Lebenszeit). Während des 1. Weltkriegs vertrat er eine kritische, doch loyale Haltung gegenüber der Monarchie (1917 protestierte er gegen das Manifest der tschechischen Schriftsteller), weshalb er nach der Gründung der Tschechoslowakei ignoriert wurde und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Erst in seinen letzten Lebensjahren wurde er als Historiker und führender Wissenschaftsorganisator des Fin de Siècle teilweise rehabilitiert. G.s Forschungsinteressen galten der Historiographie (Arbeiten über →František Palacký, Tomek, Rezek, Arnošt Denis) und der Methodologie („Dějiny a dějepis“, in: Athenaeum 6–7, 1888–89), wobei er auf die Zusammenhänge der historischen Wissenschaften mit soziologischen (Georg Simmel, Werner Sombart) und ökonomischen (Karl Marx) Theorien verwies. Sein wissenschaftliches Credo, analytische Quellenkritik mit sorgfältiger Lektüre relevanter sozial- und kulturorientierter Fachliteratur zu verbinden, verwirklichte er in seinen Publikationen zur böhmischen Geschichte des Mittelalters („Čechy a Prusy ve středověku“, 1897) und der Renaissance, mit besonderer Berücksichtigung der Religionsgeschichte. Der erzieherische Charakter seiner Geschichtsschreibung ist trotz mehrfacher Distanzierung von politischer Instrumentalisierung ersichtlich. Als Belletrist publizierte er schon früh Erzählungen mit dörflicher und sozialer Thematik sowie populärwissenschaftliche historische und volkskundliche Beiträge in „Lumír“, „Osvěta“, „Květy“, „Rodinná kronika“ und „Zlatá Praha“. In seinen früheren Gedichten („Básně“, 1874) thematisierte er elegisch historische Stoffe, bekannte sich aber auch zu einer nonkonformen, rebellischen Position. In den 1890er-Jahren schrieb er epische und reflexive Gedichte, später – nach dem Tod seines einzigen Sohns – nahmen seine deutschsprachigen Verse düstere, fast dekadente Töne an („Vom Tode und vom Sterben“, Ms. 1913, ed. Otokar Fischer, 1930). G. übersetzte auch aus dem Französischen (u. a. Charles Baudelaire) und ins Deutsche (Petr Bezruč). Er wurde 1877 ao., 1901 o. Mitglied der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, 1900 Mitglied der Polska Akademia Umiejętności sowie 1907 o. Mitglied der Böhmischen Kaiser Franz Joseph-Akademie der Wissenschaften, Literatur und Kunst; Dr. h. c. der Universität Brünn.

Weitere W. (s. auch LČL; J. Vávra, in: Problémy dějin historiografie 3, 1987, S. 117ff.): Die französische Heirath. Frankreich und England 1624 und 1625, 1876; Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der Böhmischen Brüder, 2 Bde., 1878–82; Posledních padesát let české práce dějepisné, ed. J. Šusta, 1926; Vybrané spisy drobné, 2 Bde., 1928–29. – Nachlass: Archiv Akademie věd České republiky, Národní archiv, beide Praha, CZ.
L.: Lidové noviny, Národní osvobození, Prager Presse, 9., Samostatnost, 12. 7. 1929; LČL (m. W.); Masaryk; Otto; Otto, Erg.bd.; A. Novák, in: Die Literatur 31, 1928/29, S. 745; V. Novotný, in: Časopis Matice Moravské 53, 1929, S. 278ff.; K. Krofta, in: Almanach České akademie věd a umění 39, 1929 (mit Bild); J. Šusta, in: Český časopis historický 35, 1929, S. 475ff.; Listy úcty a přátelství, ed. J. Klik, 1941; M. Dvořák, Listy o životě a umění, 1943; F. M. Bartoš, J. G., 1947; R. G. Plaschka, Von Palacký bis Pekař, 1955, S. 56ff.; J. Špét, Listy filologické 84, 1961, S. 8ff.; J. Marek, J. G., 1991 (mit Bild); J. Štaif, Historici, dějiny a společnost, 1997, S. 245ff.; K. Kazbunda, J. G. a J. Pekař ve víru války světové, 2000; M. Kučera, Rakouský občan J. Pekař, 2005, s. Reg.; J. G. a jeho žáci, ed. B. Jiroušek u. a., 2005; J. Hoffmannová, in: Český časopis historický 104, 2006, S. 871ff.; M. Řepa, Poetika českého dějepisectví, 2006, s. Reg.; B. Jiroušek, J. G., 2006; F. Kutnar – J. Marek, Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectví, 3., erw. Aufl. 2009, s. Reg. (mit Bild); R. Pazderský, Církevní dějiny 5, 2012, S. 113ff.; ders., in: Dějiny – teorie – kritika 9, 2012, S. 7ff.; ders. in: Prager wirtschafts- und sozialhistorische Mitteilungen 18, 2013, S. 97ff.
(V. Petrbok)   
Zuletzt aktualisiert: 30.11.2015  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 4 (30.11.2015)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 6, 1957), S. 27f.
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