Gombrich, Ernst Hans Sir (1909–2001), Kunsthistoriker

Gombrich Ernst Hans Sir, Kunsthistoriker. Geb. Wien, 30. 3. 1909; gest. London (GB), 3. 11. 2001; evang. AB. Sohn des Rechtsanwalts Dr. Karl B. Gombrich (1874–1950; bis 1900 mos., ab 1905 evang. AB) und der Pianistin Leonie Gombrich, geb. Hock (1873–1968; bis 1904 mos., ab 1905 evang. AB), die im Kreis um →Gustav Mahler verkehrte, Bruder u. a. von Anna Amadea (Dea) Gombrich, verheiratet mit dem Direktor des British Museum Sir John Forsdyke, Vater des Indologen Richard Gombrich; ab 1936 verheiratet mit der tschechischen Konzertpianistin Ilse Heller (1910–2006). – G. besuchte zunächst eine Privatschule, wurde jedoch wegen Unterernährung 1920 gemeinsam mit seiner Schwester Lisbeth im Rahmen der Kinderhilfsaktion Save-the-Children für neun Monate nach Schweden geschickt. Wieder in Wien, absolvierte er die Theresianische Akademie. G., der auch eng mit der Musik verbunden war, kam früh mit den Naturwissenschaften und der bildenden Kunst über die großen Sammlungen des Natur- bzw. Kunsthistorischen Museums sowie über die elterliche Bibliothek in Berührung. 1928–32 studierte er an der Universität Wien Kunstgeschichte und Archäologie. Seine Lehrer waren u. a. →Julius von Schlosser, Hans Tietze, →Heinrich Glück, Karl M. Swoboda, Heinrich Hahnloser, →Emil Reisch, →Kamillo Praschniker und →Emanuel Löwy. Fasziniert von asiatischer Kunst, begann er Chinesisch zu lernen und wurde um 1931 Mitglied der Gesellschaft der Freunde asiatischer Kunst und Kultur in Wien. 1932 ging G. für ein Semester nach Berlin, um dort Heinrich Wölfflin zu hören und besuchte daneben die Vorlesungen des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler sowie des Barock- und Manierismusexperten Werner Weisbach und des Byzantinisten Oskar Wulff. 1933 reichte G. seine Dissertation über „Giulio Romano als Architekt“ bei Schlosser ein. Auf die darin aufgeworfenen Grenzfragen zwischen Kunstwissenschaft und Psychologie rekurrierte er im Laufe seiner Karriere immer wieder. 1935 verfasste er aus pekuniären Gründen für den Verleger Walter Neurath „Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser“. Bereits 1934 begann er eine Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker und Kunsthistoriker Ernst Kris, der ihn mit einer Forschungsarbeit über die Karikatur betraute und ihn 1936 an das Warburg Institute nach London vermittelte. Dort war er zunächst als Research Assistant tätig und befasste sich mit dem Warburg-Nachlass. Nachdem 1937 das Institute für einige Zeit schließen musste, hielt G. am Courtauld Institute of Art Kurse über die Renaissance. In dieser Zeit verfasste er mit Otto Kurz im Auftrag des Courtauld Institute ein Lehrbuch für Ikonographie, das jedoch unveröffentlicht blieb. 1939–45 verpflichtete er sich über Vermittlung von Kris beim Abhördienst der BBC. Die Übertragung deutscher Radiosendungen ins Englische ließ ihn über die Probleme des Übersetzens sowie über das Verhältnis der verschiedenen Sprachen zueinander reflektieren. Er publizierte einige kunsthistorische Aufsätze in Zeitschriften (u. a. „Art and Propaganda“, 1939; „The Artist and the Art of War“, 1940; „Reynolds’s Theory and Practice of Imitation“, 1942). Daneben verfasste er im Auftrag des Verlegers Bela Horowitz eine Kunstgeschichte für Jugendliche, die 1950 unter dem Titel „The Story of Art“ (deutsch: „Die Geschichte der Kunst“, 1953) erschien und mehrfach aufgelegt zum Verkaufserfolg wurde. 1946 wurde G. britischer Staatsbürger. Mittlerweile war er an das der University of London eingegliederte Warburg Institute zurückgekehrt und erhielt dort zunächst nur temporäre Verträge als Senior Research Fellow. 1948, nach dem Tod von →Friedrich (Fritz) Saxl, bekam G. eine dauerhafte Anstellung. Aufgrund des Echos seiner „Story of Art“ in der internationalen Fachpresse erhielt er für 1950–53 die renommierte Slade-Professur in Oxford und wurde 1956 nach Washington eingeladen, um dort die Mellon Lectures an der National Gallery abzuhalten. Aus diesen Vorlesungen ging sein wohl berühmtestes Buch, „Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation“ (1960), hervor. Weitere Professuren im In- und Ausland folgten, etwa 1956 die Durning-Lawrence Professur am University College und die Lethaby Professur am Royal College of Art (1967–68; beide London). Außerdem war er Visiting Professor in Harvard (1959), Andrew D. White Professor-at-large an der Cornell University (1970–77) und Wrightsman Lecturer am Metropolitan Museum in New York (1976). 1959–76 fungierte G. als Direktor des Warburg Institute und richtete es vermehrt zu einer Forschungs- und Lehrstätte für Nachwuchswissenschaftler aus. Er initiierte 1965 ein eigenes Master-Programm und verfasste die erste Biographie Warburgs („Aby Warburg. An Intellectual Biography“, 1970). Daneben entstanden Aufsätze sowie Bücher: „Meditations on a Hobby Horse“ (1963), „Norm and Form. Studies in the Art of the Renaissance“ (1966) und „The Sense of Order. A Study in the Psychology of Decorative Art“ (1979). Als Trustee of the British Museum (1974–79) und Member of the Museums and Galleries Commission (1976–82) beteiligte er sich an kulturpolitischen und denkmalpflegerischen Debatten (z. B. mit seinen Aufsätzen „The Museum: Past, Present and Future“, 1977, und „Warum Denkmalpflege?“, 1983). Sein interdisziplinärer Zugang und seine Begabung, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen, erreichten eine große Leserschaft weit über seine Disziplin hinaus. Unzählige Korrespondenzen belegen den intensiven Austausch mit Fachkollegen und Künstlern, wie u. a. mit Gertrud Bing, Rudolf Wittkower, Hans Tietze, Erwin Panofsky, Willibald Sauerländer, Werner Hofmann, Alf Bøe, Sybille Moser-Ernst, Marie-Louise von Motesiczky, Quentin Bell, Henri Cartier-Bresson und Lilly von Sauter. Wichtig für seine Arbeit waren u. a. die Philosophen Sir Karl Popper und George Boas, der Psychologe James J. Gibson, der Neuropsychologe Richard Gregory, der Medienwissenschaftler und Kunstpsychologe Rudolf Arnheim sowie der Kunst- und Musiktheoretiker Anton Ehrenzweig. Über 600 Publikationen, größtenteils in mehrere Sprachen übersetzt, in einer unprätentiösen klaren Sprache, beweisen G.s außergewöhnliche Produktivität. G. erhielt zahlreiche Ehrungen: 1966 wurde er zum Commander of the Order of the British Empire ernannt und 1972 als Knight Bachelor mit dem Titel „Sir“ in den Ritterstand erhoben, 1988 erhielt er den Order of Merit, 1975 den Erasmus-Preis, 1976 den Hegel-Preis, 1977 die Medaille des College de France, 1984 das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, 1986 den Kulturpreis der Stadt Wien, 1988 den Ludwig-Wittgenstein-Preis, 1994 den Goethe-Preis. Weiters wurde er mit 15 Ehrendoktoraten von europäischen und amerikanischen Universitäten (zuletzt 1999 von der Universität Wien) ausgezeichnet. Er war Mitglied der American Academy of Arts and Sciences (ab 1964), korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (ab 1979) und Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ab 1986).

Weitere W. (s. auch E. H. G. A Bibliography, ed. J. B. Trapp, 2000): Studies in the Art of the Renaissance, 4 Bde., 1971–86; Ideals and Idols. Essays on Values in History and in Art, 1979; Tributes. Interpreters of our cultural tradition, 1984; Topics of our time. Twentieth Century Issues in Learning and in Art, 1991; Gastspiele. Aufsätze eines Kunsthistorikers zur deutschen Sprache und Germanistik, 1992; „Die Assimilation war sozusagen das natürliche Programm …“, in: Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat: Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, ed. A. Wimmer, 1993; The Uses of Images. Studies in the Social Function of Art and Visual Communication, 1999; The Preference for the Primitive. Episodes in the History of Western Taste and Art, 2002.
L.: Hdb. der Emigration 2; K. Lepsky, E. H. G. Theorie und Methode, 1991; Sight & Insight. Essays … of E. H. G., ed. J. Onians, 1994; U. Wendland, Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil 1, 1999; W. Sauerländer, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2002; L’Arte e i linguaggi della percezione. L’eredità di Sir E. H. G., ed. R. Bösel u. a., 2004; Oxford Dictionary of National Biography 22, 2004; Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon, ed. P. Betthausen u. a., 2. Aufl. 2007; Lexikon der Geisteswissenschaften, ed. H. Reinalter – P. Brenner, 2011; Ästhetik und Kunstphilosophie, ed. M. Betzler u. a., 2. Aufl. 2012; Meditations on a Heritage: Papers on the Work and Legacy of Sir E. G., ed. P. Taylor, 2014; ART and the MIND – E. H. G. Mit dem Steckenpferd unterwegs, ed. S. Moser-Ernst, 2018; The Gombrich Archive (online, Zugriff 16. 5. 2018); UA, Wien.
(U. Marinelli)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)