Grillparzer, Franz (1791-1872), Schriftsteller

Grillparzer Franz, Dichter. * Wien, 15. 1. 1791; † Wien, 21. 1. 1872. Der Großvater Josef G. († 1694) wanderte als Gastwirt von Oberösterr. nach Wien, der Vater Wenzel G. (1760–1809) als Advokat tätig, aber in seiner schroffen, fanat. ehrlichen Art erfolglos, vermählte sich mit Anna Franziska Sonnleithner (1767–1819), einer Tochter des Dekans der Wr. Rechtsfakultät und Hofrichters des Schottenstifts Christoph S. (1734–86), die aus begabter Familie stammte, musikal. und phantasievoll, aber auch nervös-reizbar war. Beide Eltern vererbten ihren vier Söhnen (Karl 1792–1861, Kamillo 1793–1875, Adolf 1800–17) wesentliche Eigenschaften. G. machte die Normalschule bei St. Anna und in der Josefstadt bei den Piaristen als Privatist (1796–99) und besuchte erst von der 2. Klasse an das Gymn. bei St. Anna als öffentlicher Schüler (1799 bis 1804). An der Univ. Wien absolv. er 1804–07 die philosoph. Stud. und widmete sich 1807–11 dem Rechtsstud., worüber er nach Ablegung der letzten Prüfung November 1813 das Absolutorium erhielt. Die Verzögerung kam dadurch zustande, daß er nach dem Tode des Vaters (1809) bald für den Unterhalt der ganzen Familie aufzukommen hatte. Seit März 1812 war er Hofmeister bei Gf. Seilern, auch auf dessen Gütern Kralitz, Lukow etc. in Mähren, und erkrankte im Herbst 1812 nicht unbedenklich. Februar bis Dezember 1813 unbesoldeter Konzeptspraktikant an der Hofbibliothek, November 1813 Konzeptspraktikant bei der Bancal-Gefällen-Administration in Österr. o. d. Enns, März 1815–18 im Zoll-Departement der Hofkammer, darauf in einem anderen Departement der gleichen Behörde verwendet. Juli 1823 Hofkonzipist bei der allg. Hofkammer und 1832 Dir. des Hofkammerarchivs, wo er bis zu seiner angesuchten Pensionierung im April 1856 blieb, da Gesuche um Verleihung der Direktorstelle an der Wr. Universitätsbibliothek (März 1834), sowie um die Stelle eines ersten Kustos an der Hofbibliothek (April und September 1844) erfolglos blieben. Früh hat G. sich in der Dichtung versucht. Von den zahlreichen Ansätzen, besonders dramat. Art, wurde nur ein Drama, „Blanka von Kastilien“ (1809), vollendet, das von dem Onkel Joseph Sonnleithner, damaligem Leiter des Burgtheaters, wegen seiner extremen Schiller-Nachahmung als unreif abgewiesen werden mußte. Durch Zufall ergab sich (1816) nähere Bekanntschaft mit J. Schreyvogel, dem Dramaturgen des Burgtheaters, der ihn zur Abfassung der „Ahnfrau“ aufmunterte und die Entstehung des Stückes mit seinen Ratschlägen begleitete, die nach G.s Auffassung nicht immer glücklich waren, da dadurch Momente des modernen Fatalismus stärker betont wurden. Diese brachten das Stück dem Bereich des Schicksalsdramas nahe, wogegen sich G. aber zeitlebens gewehrt hat. Die Aufführungen im Theater a. d. Wien (1817) waren bald ein großer Erfolg, die „Ahnfrau“ wurde ein Zugstück. G. aber wollte zeigen, daß er auch mit edleren Mitteln zu wirken vermöge. „Sappho“ (1818) bewirkte, daß er mit einem Kontrakt vom 1. Mai 1818 auf 5 Jahre zum Burgtheaterdichter bestellt wurde. Nach dem Selbstmord der Mutter (1819) unternahm er zur Ablenkung eine Reise nach Italien (März-Juli 1819), die ihm wegen des Gedichtes auf die „Ruinen des Campo vaccino“ Unannehmlichkeiten mit der Zensur brachte. Nach der Rückkehr vollendete er die drei Stücke des „Goldenen Vlieses“, für dessen „Medea“ die Liebe zur Frau seines Vetters, Charlotte v. Paumgartten, geb. Jetzer († 1827), Anregung bot. Erst 1822 fand G. die Kraft, sich der Leidenschaft für Charlotte zu entreißen, nachdem die Bekanntschaft mit Katti Fröhlich (s. d.), wohl um 1820/21, stärkere Wurzeln geschlagen hatte und damit eine Beziehung angebahnt war, die in ihrem Schwanken auf beide Teile zermürbend wirken mußte. Katti wurde die „ewige Braut“ des Dichters, der sich für die Ehe ungeeignet hielt, wozu noch der Umstand beitrug, daß G. ständig finanziell für seine Verwandten sorgen mußte und gewissermaßen sein Leben zum Opfer brachte. Dem Mädchen setzt er in seinem ersten hist. Drama „König Ottokars Glück und Ende“ (1823, uraufgeführt 1825), das erst nach Überwindung einiger Schwierigkeiten auf die Bühne kam, ein kleines Denkmal. Bald aber geriet er in neue Herzenswirren durch Marie v. Smolk-Smolenitz, die 1827 den Maler Moritz M. Daffinger (s. d.) heiratete. Vergeblich suchte er 1826 durch eine Reise nach Deutschland, bei der die denkwürdige Begegnung mit Goethe stattfand, den Banden zu entfliehen, erst 1831 gewann er die Freiheit wieder. Unterdessen war „Ein treuer Diener seines Herrn“ (1828) und „Des Meeres und der Liebe Wellen“ (1831) aufgeführt worden. „Melusine“, als Operntext für Beethoven bereits 1823 niedergeschrieben, später von Konradin Kreutzer vertont, wurde 1833 in Berlin, 1835 in Wien mit geringem Erfolg gegeben, nachdem G. mit dem „Traum ein Leben“ (1834) nochmals große Wirkung erzielt hatte. Auf einer Reise nach Frankreich und England (1836), die ihn mit manchen bedeutenden Männern zusammenführte, lernte G. die für die Strömungen der Zeit so wichtigen westlichen Länder und ihre polit. Einrichtungen kennen. 1834 unternahm er noch eine Reise nach Griechenland und der Türkei (August bis November) und September 1847 nochmals eine nach Deutschland. Nach dem Mißerfolg des Lustspieles „Weh dem, der lügt“ (1838) zog sich G. zurück und feilte nur mehr an seinen drei großen Altersdramen, deren Vernichtung er im Testament des Jahres 1848 anordnete. 1848 ließ er sich eine Zeitlang von der Woge der Erhebung tragen, erkannte aber bald in der Armee die einzige Stütze gegen den drohenden Zerfall des geliebten Vaterlandes und feierte darum Feldmarschall Radetzky im Gedicht („Glückauf, mein Feldherr“). Immer mehr zog er sich in sich selbst zurück und lebte schließlich vereinsamt als „Zimmerherr“ bei seiner Braut und deren Schwestern in der Spiegelgasse Nr. 21, wo ihn nach der rauschenden Feier seines 80. Geburtstages im 82. Lebensjahr ein sanfter Tod hinwegnahm. Das Leichenbegängnis auf dem Währinger Friedhof glich dem eines Fürsten. Die 3 Altersdramen wurden erst nach seinem Tode aufgeführt, nur der 1. Akt von „Libussa“ bereits 1840 bei einer Wohltätigkeitsvorstellung, das ganze Stück aber erst 1874; „Ein Bruderzwist in Habsburg“, 1872, „Die Jüdin von Toledo“, zu deren Gunsten die „Esther“ aufgegeben worden war, 1873. Heinrich Laube hatte sich als Burgtheaterdir. an die Wiederaufführung einiger Dramen gewagt. Die „Gesammelten Werke“ erschienen erstmals 1872. G. ist der bedeutendste Dichter Österr. In seinen Bühnenwerken fließt die Tradition des Habsburgerreiches vom span. Barock (Calderon, Lope), der Wr. Barockoper, dem barocken Ordensdrama und dessen Ableger, dem Wr. Volkstheater, ähnlich wie bei Ferdinand Raimund, nur auf gehobener künstlerischer Ebene, zusammen. Formal zeigt er häufig den Aufbau des Problemstückes, dessen 1. Akt als Vorspiel, dessen letzter als eine Art Epilog dient, was sich inhaltlich darin zeigt, daß wiederholt eine Aufgabe gestellt wird, deren Lösung das Stück besorgt (z. B. Goldenes Vlies, Bancban, Traum ein Leben, Weh dem, der lügt, Libussa). In der oft kühnen Darstellung seel. Problematik, zumal in der Zeichnung der Frauengestalten, eilt er seiner Zeit weit voraus und wird mit der Erfassung seel. Eigenart zu einem Weiser in die Zukunft. Auch die Neufassung seines Begriffes vom Tragischen (Sieg der Notwendigkeit über die Freiheit, entgegen Schiller), seine Betonung der Umstände, die Vorliebe für „schwache Helden“, die Auffassung des Charakters als Schicksal, geht über seine Zeit hinaus. Er ließ den Menschen an der geistig-seel. Entwurzelung, am „Verlust seiner Heimat“ im weitesten Sinne, zugrunde gehen; uneins mit sich selbst, war ihm das Höchste, sich selbst treu zu bleiben, ein Zeichen der beginnenden Auflösung von innen her. So steht er, trotz gewollter Bindung an die Vergangenheit, an der Wende der Zeiten. Bleibt er als Lyriker stark im Persönlichen und Konventionellen befangen, so ist die feine Seelenmalerei des „Armen Spielmanns“, die für die Entwicklung der österr. Erzählkunst Bedeutung gewann, besonders hervorzuheben. Auch G.s polit. Erkenntnisse, seine geschichtlichen und literar. Studien verdienen höchste Beachtung. In seinen Tagebüchern sind auf Grund von Selbstbeobachtung in nervöser Selbstzergliederung erschütternde Einsichten niedergelegt, so daß G. auch in der Geschichte der Seelenkunde seinen Platz beanspruchen darf. Er hat die Bedeutung des Unbewußten und Unterbewußten bereits erkannt und hat Träume oft tief verwundert aufgezeichnet. Somit ist er der Vorläufer der Wr. Dichtung um 1900, der sog. Décadence, geworden. Vielfach geehrt und ausgezeichnet, u.a. Mitgl. der Akad. d. Wiss. in Wien, Ehrenmitgl. des Schiller-Ver. in Leipzig, Dr.h.c. der Univ. Leipzig, Dr.h.c. der Univ. Innsbruck, Ehrendiplom der Univ. Graz, Ehrenmitgl. des Freien dt. Hochstifts in Frankfurt a. M., Ehrenmitgl. des Doktorenkollegiums der phil. Fakultät der Univ. Wien, Mitgl. des österr. Herrenhauses, Ehrenbürger der Stadt Wien. Grillparzer-Preisstiftung zur Hebung der dt. dramat. Produktion, vgl. Stiftbrief vom 27. 9. 1872 (Almanach Wien 1880, S. 101, Neufassung 1956, S. 160), Preisträger vgl. R. Meister, Geschichte der Akad. d. Wiss. in Wien, 1947, S. 356, und Almanach Wien, 1875 ff. 1891 wurde die Grillparzer-Ges. in Wien begründet, die ein „Jahrbuch“ herausgibt.

W.: Goedeke, Grundriß VIII², S. 359–459, § 323. Ausgaben: A. Sauer, 5. Aufl. 1892; Hist. krit. Ges.-Ausg., hrsg. von A. Sauer und R. Backmann, 1909 ff.; St. Hock, 1921f; u.a.
L.: Goedeke VIII², S. 317 ff. (A. Sauer); Jbb. der Grillparzer-Ges., u. a. 34, 1937, S. 102–172 (K. Vancsa), 3. F., 1, 1953, S. 33–80 (O. F. Straubinger). Wichtigste Gesamtdarstellungen: H. Laube, F. G.s Lebensgeschichte, 1884; A. Sauer, F. G. (Einleitung zur 5. Ausgabe der Werke), 1892; A. Erhard, F. G. (dt. Ausgabe von M. Necker), 1902, 2. Aufl. 1910; E. Alker, F. G., 1930; D. Yates, F. G., 1946; J. Nadler, F. G., 1948; Almanach Wien, 1872; Brümmer; Giebisch–Pichler–Vancsa; Kindermann-Dietrich; Kosch; Nagl–Zeidler–Castle 2; H. Pongs, Kleines Lex. der Weltliteratur, 1954; Wurzbach; ADB; M. Greiner, Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie, 1953, S. 51 ff.; J. Bianchi, Rizy und Stifter, in: A.-Stifter-Institut des Landes Oberösterr., Vierteljahrschrift, 2, 1953, S. 9–23; M. Enzinger, Stifters Weg zum Geschichtsroman, Festschrift für D. Kralik, 1954, S. 259–271; G. Baumann, F. G., 1954; Z. Skreb, G.-Studien, in: Festschrift für J. F. Schätz, 1954, S. 127 ff.; G. Stein, The Inspiration motif in the works of F. G., 1956.
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 6, 1957), S. 61ff.
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