Hahn-Neurath, Olga; geb. Hahn (1882–1937), Mathematikerin und Philosophin

Hahn-Neurath Olga, geb. Hahn, Mathematikerin und Philosophin. Geb. Währing, Niederösterreich (Wien), 20. 7. 1882; gest. Den Haag (NL), 20. 7. 1937 (begraben auf dem Anwesen Groenouwe im Gebiet der Hoge Veluwe, NL); röm.-kath., ab 1912 evang. AB. Tochter von Hofrat Ludwig Benedikt Hahn (1844–1923), Vorstand des Telegraphen-Correspondenz-Bureaus und Herausgeber der „Politischen Correspondenz“, der 1877 vom Judentum zum Katholizismus konvertierte, und dessen Frau Emma Hahn, geb. Blümel (1850–1940), Schwester von →Hans Hahn und →Louise Fraenkel-Hahn, Stiefmutter des Soziologen und Statistikers Paul Martin Neurath (geb. Wien, 12. 9. 1911; gest. New York, NY, USA, 3. 9. 2001); ab 1912 verheiratet mit →Otto Neurath. – H. wurde privat unterrichtet und legte 1902 eine externe Matura am Akademischen Gymnasium in Wien ab. Danach studierte sie – trotz ihrer Erblindung (1904) – bis 1909 mit Unterbrechungen an der Universität Wien Philosophie und Mathematik. Nach Erhalt des Absolutoriums im April 1910 betrieb sie private Studien. 1911 wurde sie aufgrund ihrer Dissertation „Über die Koeffizienten einer logischen Gleichung und ihre Beziehungen zur Lehre von den Schlüssen“ (in: Archiv für systematische Philosophie NF 16, 1910), die von →Adolf Stöhr als überdurchschnittliche Arbeit beurteilt wurde, zum Dr. phil. promoviert. Bereits ab 1908 war H. Teilnehmerin an einem Wiener Gesprächszirkel, dem neben ihrem Bruder Hans ab 1906 auch Otto Neurath angehörte, den H. Ende der 1890er-Jahre auf dem Semmering kennengelernt hatte. Mit ihm verfasste sie in der Folge einen ihrer insgesamt nur noch zwei weiteren veröffentlichten Aufsätze, die beide ebenfalls im „Archiv für systematische Philosophie“ und bereits vor ihrer Promotion erschienen sind. Während des 1. Weltkriegs war H. zunächst auf sich allein gestellt, bis Otto Neurath Ende Juni 1916 vom Fronteinsatz zum Kriegsministerium abkommandiert wurde und nach Wien zurückkehren konnte. Nach einem Aufenthalt in München (1919) kam das Ehepaar 1920 nach Wien zurück. Neurath sorgte wie bereits während H.s Studienzeit dafür, dass ihr von Freundinnen und Studentinnen Literatur über höhere Mathematik vorgelesen wurde. Ab dieser Zeit erteilte H. Privatunterricht in Mathematik und Latein, u. a. dem späteren bedeutenden Physiker Otto Robert Frisch. Daneben nahmen H. und Neurath Anfang der 1920er-Jahre an einem Diskussionszirkel über die Philosophie →Edmund Husserls teil. Das Ehepaar zog zu dieser Zeit mehrmals um, zuletzt 1921 in eine Substandardwohnung in der Schloßgasse (Wien 5). 1921 holte es Neuraths Sohn Paul nach Wien, der ab 1913 in einem Kinderheim der evangelischen Diakonissenanstalt Bethanien in Gallneukirchen gelebt hatte. H. wurde nun zur wichtigsten Bezugsperson für Paul und übte starken intellektuellen Einfluss auf ihn aus. H., die trotz ihrer Erblindung regen Anteil am gesellschaftlichen Leben nahm, beherrschte die Brailleschrift perfekt, traf sich mit dem Architekten →Josef Frank und nahm regelmäßig an den Seminaren ihres Bruders Hans teil. Ab Herbst 1924 besuchte H. den Schlick-Zirkel am Institut für Mathematik in der Boltzmanngasse, in den der durch etliche Jahre zuvor bestehende philosophisch-wissenschaftstheoretische Gesprächskreis von Hans Hahn und Neurath bzw. H. aufgegangen war und der auf Vorschlag Neuraths „Wiener Kreis“ genannt wurde. Damit war H. Gründungsmitglied dieses dann 1929 offiziell ins Leben gerufenen Zirkels, der zahlreiche Treffen der Mitglieder in ihrer Wohnung abhielt. Neurath unterhielt ab 1924 mit seiner späteren dritten Frau, Marie Reidemeister, eine Liebesbeziehung, die H. akzeptierte. Während Neurath im Februar 1934 für die sowjetische Regierung in Moskau tätig war, fand in seinem Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum offenbar wegen seines austromarxistischen Engagements eine Hausdurchsuchung statt. Daher emigrierte er von Moskau nach kurzen Aufenthalten in Prag und Brünn über Polen und Dänemark nach Den Haag. Noch im Frühjahr 1934 folgte ihm H. gemeinsam mit Reidemeister ins niederländische Exil. Im Haus der Familie Broese van Groenou in Scheveningen fand H. gesellschaftlichen Anschluss und organisierte philosophische Diskussionskreise.

Weitere W.: Zum Dualismus in der Logik, in: Archiv für systematische Philosophie 15, 1909 (gem. mit O. Neurath); Zur Axiomatik des logischen Gebietskalkuls, ebd.
L.: O. Neurath. Empiricism and Sociology, ed. M. Neurath – R. S. Cohen, 1973, s. Reg.; O. R. Frisch, Woran ich mich erinnere, 1981, S. 29f.; H.-J. Dahms, in: Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung, ed. H.-J. Dahms, 1985, S. 324, 332; F. Stadler, in: Vertriebene Vernunft 2, ed. F. Stadler, 1988, S. 120f.; R. Haller, ebd., S. 181; R. Hegselmann, ebd., S. 189; I. K. Helling – F. Kaufmann, ebd., S. 451; O. Neurath oder die Einheit von Wissenschaft und Gesellschaft, ed. P. Neurath – E. Nemeth, 1994, s. Reg.; N. Cartwright u. a., O. Neurath, 1996, s. Reg.; I. Korotin, in: Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne, ed. F. Stadler, 1997, S. 295ff., 306; Wissenschafterinnen in und aus Österreich, ed. B. Keintzel – I. Korotin, 2002 (mit Bild); K. Okruhlik, Logical Empiricism, Feminism, and Neurath’s Auxiliary Motive, 2004, S. 49f., 55f.; H.-J. Dahms, in: Vertriebene Vernunft 1, ed. F. Stadler, 2004, S. 69, bes. 76; Th. E. Uebel, in: International Bibliography of Austrian Philosophy 1991/92 ..., ed. R. Fabian u. a., 2005, S. 9, 12, 15; F. Mertens, O. Neurath en de maakbaarheid van de betere samenleving, 2007, S. 10, 55ff., 106f.; G. Sandner, O. Neurath, 2014, s. Reg.; K. Sigmund, Sie nannten sich Der Wiener Kreis, 2015, s. Reg.; F. Stadler, Studien zum Wiener Kreis, 3. Aufl. 2015, s. Reg., bes. S. 442f. (mit Bild); biografiA. Lexikon österreichischer Frauen 1, 2016; UA, Wien.
(M. Pesditschek)   
Zuletzt aktualisiert: 10.12.2019  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 8 (10.12.2019)