Hanusch Ferdinand, Politiker und Volksschriftsteller. * Oberdorf b. Wigstadtl (Horní Ves/Vítkov, österr. Schlesien), 9. 11. 1866; † Wien, 28. 9. 1923. H. war der vierte, nachgeborene Sohn eines schles. Hauswebers und wuchs in „dürftigster proletarischer Häuslichkeit“ auf. Schon mit 13 Jahren Bauhilfsarbeiter, mit 14 Jahren Arbeiter in einer Bandfabrik, schloß sich der 15jährige einem Fachver. an, um seine Schulbildung zu erweitern. Mit 17 Jahren ging H. auf Wanderschaft, die ihn trotz seiner Mittellosigkeit und wiederholtem polizeilichem Schub bis nach Wien, Triest, Berlin, sogar in die Türkei und nach Rumänien führte (1885–87). Dann arbeitete H. in der heim. Seidenfabrik und schloß sich 1891 aktiv der Arbeiterbewegung an. Okt. 1897 Gewerkschafts- und Parteisekretär in Sternberg, 1900 Sekretär der neugeschaffenen Union der Textilarbeiter mit dem Sitz in Wien. Von da an konnte er auf vielen Reisen eine fast den ganzen Völkerstaat umfassende Organisations- und Propagandatätigkeit entfalten, griff in zahlreiche Lohnkämpfe ein und setzte viele Verbesserungen der Arbeitszeit und der Arbeitsverträge durch. H. kam 1903 in den Vorstand der Österr. Gewerkschaftskomm. und nahm regelmäßig an den Kongressen der Textilarbeiterinternationale teil. Seit Einführung des allgemeinen Wahlrechtes (1907) gehörte H. auch dem Reichsrat als sozialdemokrat. Abg. eines deutschböhm. Wahlbezirks an. Er trat im Parlament u.a. für den Achtstundentag und gegen das Arbeitsbuch auf. Im Rahmen der Kriegswirtschaft erreichte H. dann außer der Neuregelung vieler Lohnklassen sogar eine gesetzliche Unterstützung arbeitslos gewordener Textilarbeiter (1916) und die sechsstündige Arbeitszeit am Samstag (1918). Der staatliche Umsturz vom Spätherbst 1918 brachte zwangsläufig den Zerfall der von H. noch immer erhaltenen übernationalen Organisation der Textilarbeiter mit sich, bedeutete aber zugleich einen gewaltigen Auftrieb der Gewerkschaftsbewegung im allgemeinen. H. wurde 1918 Staatssekretär für soziale Fürsorge (Verwaltung) und blieb es bis zum Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Bundesregierung (Okt. 1920). Sein Min., das durch ihn erst richtig ausgebaut wurde und u.a. die Kriegsopferfürsorge und das Volksgesundheitsamt (J. Tandler) einbezog, wurde eines der wichtigsten der ganzen Staatsverwaltung. Die zwei Jahre seiner Amtsführung waren für die sozialpolit. Entwicklung der jungen Republik von epochaler Bedeutung. Die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter und das Angestelltengesetz wurden vorbereitet, das österr. Krankenkassenwesen erhielt im Sinne von H. seine dauernde Neugestaltung. Als Abg. zuerst von Krems (1919), dann von Graz (1920 ff.) blieb H. auch immer noch parlamentar. tätig und kam nach seinem Austritt aus der Regierung an die Spitze des sozialpolit. Ausschusses. Durch seine Berufung zum Dir. der Wr. Arbeiterkammer (1921) erhielt H. Gelegenheit, die Ausführung des auf seine Initiative zurückgehenden, aber viele eingelebte Gewohnheiten treffenden Gesetzwerkes zu erproben. Damals nahm er sich wieder besonders der Arbeiterbildung an und schuf auch die sozialwiss. Studienbibl. bei der Wr. Arbeiterkammer. Persönlich bekannte sich H. in jeder Lebenslage als Proletariersohn. Er war ein Mann der Tat und der Rede und arbeitete publizist. hauptsächlich in der einschlägigen Fachpresse mit. Ungeachtet seiner beruflichen Arbeitsüberlastung war er bis zuletzt dichterisch tätig, wobei ihm das Schles.-Heimatliche und das Autobiograph, mit dem Schicksal der Arbeiterklasse eng zusammenfloß. Obwohl eine unbedingte Kämpfernatur, verstand es H. mit steigender Reife und Verantwortung, auch Andersdenkende zu überzeugen, und als Min. mit Heranziehung von Mitarbeitern auch aus anderen Lagern das „Gebäude des österr. Sozialstaates“ zu errichten, das sich gegen radikale Umsturzpläne von welcher Seite immer zu behaupten vermochte.