Hartmann, Ludo (Ludwig) Moritz (1865-1924), Historiker und Politiker

Hartmann Ludo (Ludwig) Moritz, Historiker und Politiker. * Stuttgart, 2. 3. 1865; † Wien, 14. 11. 1924. Sohn des Folgenden. Da der Vater nach längerem Leiden bereits 1872 starb, übernahm die Mutter, beraten von dessen Freunden, zu denen u.a. der Philosoph Th. Gomperz (s. d.) gehörte, die Erziehung. H., der 1883–85 an der Univ. Wien Phil. stud. und 1888/89 das Inst. für österr. Geschichtsforschung besuchte, stellte sich die Erforschung der Französ. Revolution und ihrer ferneren Ursachen zur Lebensaufgabe, die er bereits als Student sehr weitläufig auffaßte. Richtunggebend für H. wurde der Mommsen-Schüler O. Hirschfeld. 1883 übersiedelte er nach Berlin, um Mommsen selbst zu hören, und lernte dort auch H. Bresslau näher kennen. Als H. nach seiner Promotion 1887 nach Rom und 1888 nach Straßburg zu Scheffer-Boichorst ging, war seine wiss. Richtung auf die Übergangszeit vom Altertum zum Mittelalter entschieden. 1889 Priv. Doz. an der Univ. Wien für Röm. und Mittelalterliche Geschichte (1901 für das gesamte Gebiet der Geschichte) und Mitarbeiter der Monumenta Germania Historica. Dabei standen für ihn sozial-, siedlungs- und wirtschaftsgeschichtliche Fragen im Vordergrunde, der italien. Privaturkunde als Bindeglied zwischen Antike und Abendland wie der Auseinandersetzung mit Byzanz galt seine besondere Vorliebe und so gewann allmählich sein grundlegendes, freilich nie vollendetes Werk über die „Geschichte Italiens im Mittelalter“ (1897 ff.), das eine enge Verklammerung spätantiker und frühchristlicher Zustände aufzeigte, Gestalt. In mehr volkstümlichen Darstellungen schrieb H. die italien. Geschichte bis zur Gegenwart. In der „Z. (später Vierteljahrsschrift) für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ (1893 ff.) schuf er mit Kollegen ein dt. Fachorgan, das auch im Auslande Anerkennung und Nachahmung fand. H.s Anlage, Ausbildung und Interessen ließen ihn Geschichtsforscher und -schreiber, Geschichtstheoretiker und -lehrer in einer Person sein. Dabei war er stets bestrebt, Wiss. und Erwachsenenbildung in fruchtbare Beziehung zu bringen. Auf seine Anregung gingen die volkstümlichen Universitätskurse und die Gründung des „Volksheims“ in Wien-Ottakring zurück. Noch gegen Ende seines Lebens redigierte er eine von führenden Gelehrten verschiedener Nationen geschriebene „Weltgeschichte in gemeinverständlicher Darstellung“. 1901 schloß sich H. der sozialdemokrat. Partei an. Er rief den (damals bürgerlichen) Ver. „Freie Schule“ und die Frauenbildungsakad. „Athenäum“ ins Leben, ebenso die freisinnigen Salzburger Hochschulwochen und den Dt. Hochschultag. Die Ereignisse von 1918/19 griffen tief in H.s persönliches Leben ein. Noch von V. Adler (s. d.) zum Archivbevollmächtigten für Deutschösterr. bestellt, war H. um weitgehende Öffnung der Archive besorgt, die er in enge Verbindung mit dem Inst. für österr. Geschichtsforschung bringen wollte. 1903 ao. Prof., 1924 o. Prof. Dez. 1918–Nov. 1920 war H. der erste Berliner Gesandte der neuen Republik und nahm auch an den Verhandlungen des Weimarer Verfassungsausschusses teil. 1919/20 Abg. zur Konstituierenden Nationalversmlg. Deutschösterr., bis 1924 Mitgl. des österr. Bundesrats. H. gehörte in der Nachkriegszeit zu den Begründern des überparteilichen Österr.-Dt. Volksbunds und der Vereinigung sozialist. Hochschullehrer Österr. Dr. h. c. der Univ. Heidelberg und Bonn.

W.: Untersuchungen zur Geschichte der byzantin. Verwaltung in Italien, 1889; Gregorii. I. Papae Registrum epistolaram I, II, 1891–99, in: Mon. Germ. hist., Epist. I, II; Tabularium Ecclesiae S. Mariae in via lata, 3 Tle., 1895–1913; Geschichte Italiens im Mittelalter, Bd. I, II/l, 2, III/1, 2, IV/1, 1897–1915, Bd. I, 2. Aufl. 1923; Der Untergang der antiken Welt, 1903, 2. Aufl. 1910; Zur Wirtschaftsgeschichte Italiens. Analekten, 1904; Über hist. Entwicklung, 1905; Th. Mommsen, Biograph. Skizze, 1908; 100 Jahre italien. Geschichte 1815–1915, 1916; Geschichte Italiens von Romulus bis Viktor Emanuel, 1924; etc.
L.: MIÖG 41, 1926; Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1925 (Verzeichnis der hist. und soziolog. Schriften); Z. Volksbildung, Dezember 1924 (Verzeichnis der volksbildn. Schriften); N. Österr. Biogr. 3, 1926; A. Lhotsky, Geschichte des Inst. für österr. Geschichtsforschung 1854–1954, in: MIÖG Erg. Bd. 17, 1954; Feierl. Inauguration, 1925/26; Santifaller, n. 132.
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 8, 1958), S. 195f.
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