Heller, Theodor August (1869–1938), Psychologe und Heilpädagoge

Heller Theodor August, Psychologe und Heilpädagoge. Geb. Wien, 9. 6. 1869; gest. ebd., 12. 12. 1938; mos. Sohn von →Simon Heller und Anna Heller, geb. Adler (geb. Tachau, Böhmen / Tachov, CZ, 7. 3. 1848; gest. 25. 9. 1923), Vater von Franziska Heller (geb. 12. 4. 1900; gest. KZ Kauen, LT, 1941); ab 1899 verheiratet mit Ella Heller, geb. Flamm (geb. Wien, 9. 12. 1875; gest. KZ Kauen, 1941). – H. hatte aufgrund des Berufs seines Vaters schon früh Kontakt zu blinden Kindern und nahm bis zum Alter von neun Jahren an deren Unterricht teil. Bereits während seiner Schulzeit fungierte er als Vorleser für Blinde und begann sich für Philosophie zu interessieren. H. soll zunächst in Wien studiert haben (nicht nachweisbar) und belegte ab 1892 Vorlesungen in Philosophie und Psychologie sowie ab 1894 in Naturwissenschaften an der Universität Leipzig, wo er mit einer Arbeit über Blindenpsychologie bei Wilhelm Wundt und →Johannes Volkelt dissertierte; 1895 Dr. phil. Zusammen mit seinem Vater und mit Unterstützung von →Richard Freiherr von Krafft-Ebing gründete er die Heilpädagogische Anstalt für geistig abnorme und nervöse Kinder in Wien-Grinzing, später Erziehungsanstalt Wien-Grinzing, die 1897 eröffnet wurde und als deren Direktor H. fungierte. Nachdem er im ersten Jahr nur zwei Kinder aufgenommen hatte, musste die Einrichtung aufgrund der hohen Nachfrage bald auf 40 Plätze erweitert werden. Die Institution bestand aus einem Kindergarten, einer Volks- und Mittelschulabteilung, einer Gärtner- sowie einer Haushaltungsschule für Mädchen. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft geriet H. ins Visier der Nationalsozialisten. Sein Freund, der Schweizer Pädagoge Heinrich Hanselmann, bot H. an, angesichts der nationalsozialistischen Gefahr zu ihm in die Schweiz zu ziehen, was H. jedoch aus Altersgründen ablehnte. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde er als Leiter seiner Anstalt abgesetzt, und ein Fleischhauer übernahm seinen Posten. Daraufhin beging H. einen Selbstmordversuch, an dessen Folgen er wenige Monate später verstarb. Seine Frau und seine Tochter wurden aus der Erziehungsanstalt Wien-Grinzing im November 1941 in das KZ Kauen deportiert. H., der als Nestor der Heilpädagogik in Österreich gilt, bemühte sich um eine Auswertung psychologischer Forschungsergebnisse für die Heilpädagogik sowie um deren Nutzung für medizinische Therapie. Außerdem trat er für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pädagogen ein. Neben seinen frühen Studien zur Blindenpsychologie publizierte H. die Arbeit „Ueber Aphasie bei Idioten und Imbecillen“ (1896). 1909 beschrieb er mit dem Kinderarzt Julius Zappert phänomenologisch das Krankheitsbild der infantilen Demenz, die heute jedoch nicht mehr als ätiopathogenetische Einheit aufgefasst wird. Sein Hauptwerk „Grundriss der Heilpädagogik“ (1904, 3. Aufl. 1925), worin er sich u. a. mit nervösen Zuständen im Kindesalter und mit der Fürsorge bei Kindern mit Nervenleiden befasste, wurde ins Russische, Japanische, Polnische und Spanische übersetzt und fand 1914 mit „Pädagogische Therapie für praktische Ärzte“ eine Ergänzung. Weiters veröffentlichte er „Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes“ (1911, 2. Aufl. 1925) und „Über Psychologie und Psychopathologie des Jugendlichen“ (1927). Darüber hinaus war H. Mitherausgeber der „Zeitschrift für Kinderforschung“. 1906 gründete er die Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung in Wien und 1935 die Österreichische Gesellschaft für Heilpädagogik. Die Gesellschaft für Heilpädagogik in München wählte ihn bei ihrer Gründung 1922 zum Ehrenvorsitzenden. Als 1937 in Budapest die Internationale Gesellschaft für Heilpädagogik ins Leben gerufen wurde, ernannte man H. zum Ehrenpräsidenten. Nach ihm wurde das Heller-Syndrom, eine desintegrative Störung im Kindesalter, benannt.

Weitere W.: Psychasthenische Kinder, in: Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung 29, 1907; Fürsorgeerziehung und Heilpädagogik in Deutschland und Österreich, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 22, 1931. – Ed.: Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge, 2 Bde., 1911 (gem. mit F. Schiller – M. Taube, 2. neubearb. Aufl. 1930, gem. mit L. Clostermann – P. Stephani).
L.: (M.) Isserlin, in: Zeitschrift für Kinderforschung 35, 1929, S. 453ff.; G. Heller, Th. H. (1869–1938) – ein Pionier der Heilpädagogik ..., DA Salzburg, 1998; D. Lotz, in: Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im 20. Jahrhundert, ed. M. Buchka u. a., 2000, S. 111ff.; G. Nissen, Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 2005, S. 473f.; D. Gröschke, Heilpädagogisches Handeln, 2008, s. Reg.; S. L. Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik, 2008, s. Reg.; S. Umele, Zur Geschichte der Kindheit in Österreich, phil. DA Klagenfurt am Wörthersee, 2011, S. 82ff.; IKG, Wien; UA, Leipzig, D.
(G. Vavra)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)