Hruševs'kyj (Hruschewskyj), Mychajlo (1866–1934), Historiker, Politiker und Schriftsteller

Hruševsʼkyj (Hruschewskyj) Mychajlo, Historiker, Politiker und Schriftsteller. Geb. Cholm, Russisches Kaiserreich (Chełm, PL), 29. 9. 1866; gest. Kislovodsk, UdSSR (RUS), 25. 11. 1934 (begraben: Kyjiv, UA). Vater der im Zuge des stalinistischen Terrors umgekommenen Ethnologin Kateryna Mychajlivna Hruševsʼka (geb. Lemberg, Galizien / Lʼviv, UA, 21. 6. 1900; gest. Sibirien, UdSSR/RUS, 30. 3. 1943); ab 1896 verheiratet mit der Pädagogin und Übersetzerin Marija-Ivanna Sylʼvestrivna Hruševsʼka, geb. Vojakivsʼka (geb. Podhajczyki, Galizien / Pidhajčyky, UA, 8. 11. 1868; gest. Kiew, UdSSR / Kyjiv, UA, 19. 9. 1948). – H. wuchs im Nordkaukasus auf und besuchte ab 1880 ein russischsprachiges Gymnasium in Tbilisi. 1886 inskribierte er an der Universität in Kiew. Auf Vermittlung seines Lehrers, des Historikers Volodymyr Antonovyč, wurde er 1894 auf einen Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte Osteuropas mit ukrainischer Unterrichtssprache an die Universität Lemberg berufen. Dort prägte er mit der von ihm begründeten historischen Schule eine ganze Generation junger Geisteswissenschaftler und entwickelte sich zu einer der führenden Persönlichkeiten in den Bemühungen um die ukrainische Sprache und eine eigenständige ukrainische Universität. 1897–1913 Präsident der Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften (ŠGW), forcierte er deren Akademisierung und nutzte seine Position, um Hilfsmaßnahmen für ukrainische Studierende zu initiieren sowie diese in Vereins- und Assistenztätigkeiten für ihn einzubinden. Während er unter dem Begriff ukrajinoznavstvo („Ukraine-Kunde“) eine nationale Wissenschaft etablierte und intensiv förderte, marginalisierte er u. a. die österreichbezogene Rechtswissenschaft innerhalb der ŠGW. Infolge der Revolution von 1905 verlagerte H. seine Tätigkeit zunehmend ins Zarenreich und gründete 1907 in Kiew die Ukrainische Wissenschaftliche Gesellschaft. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs reiste er nach Kiew, von wo er wegen des Verdachts der Austrophilie nach Sibirien exiliert wurde, während ihn die habsburgischen Behörden ihrerseits der Russophilie verdächtigten. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs kehrte er nach Kiew zurück und wurde zum Präsidenten der Centralʼna Rada gewählt. Nach dem Putsch vom April 1918, der das Skoropadsʼkyj-Regime etablierte, begab er sich in den Untergrund, um sich nach diesen Erfahrungen im Rahmen der Ukrainischen Sozialrevolutionären Partei kurzfristig den Bolschewiki anzunähern. Im Frühjahr 1919 wählte er aufgrund des politischen Drucks das westeuropäische Exil und gründete das Ukrainische soziologische Institut mit Sitz in Prag, später in Wien. Von den neuen Möglichkeiten der sowjetischen Nationalitätenpolitik angezogen, kehrte H. 1924 nach Kiew zurück und arbeitete als Mitglied der Allukrainischen Akademie der Wissenschaften. 1931 wurde er mit seiner Familie nach Moskau exiliert und geriet gleichzeitig in den Fokus einer kompromittierenden Pressekampagne. Bis zu seinem Tod stand er unter ständiger und genauer Beobachtung des sowjetischen Geheimdiensts. H.s Opus magnum ist seine zehnbändige Geschichte der Ukraine-Rusʼ („Istorija Ukrajiny-Rusy“, 1898–1936), deren letzten Band seine Tochter posthum veröffentlichte; ein letztes Manuskript, dessen Inhalt und Verbleib bis heute nicht geklärt sind, wurde von sowjetischen Behörden beschlagnahmt. H.s enger Freund und Kollege →Ivan Franko übersetzte den 1. Band auch ins Deutsche. Der russisch-imperialen Meistererzählung einer dreigliedrigen russischen Nation, bestehend aus „Großrussen“, „Kleinrussen“ und „Weißrussen“, stellte er das Narrativ einer eigenständigen ukrainischen Identität gegenüber. Von sowjetischen Historikern als Falsifikator der ukrainischen Geschichte gebrandmarkt, wurde er in der unabhängigen Ukraine rehabilitiert und als einflussreicher Nationalhistoriker und 1. Präsident der Ukraine gewürdigt. Die Erforschung seiner Biographie und seines Werks war in der Sowjetunion verboten und wurde deshalb primär in der nordamerikanischen Diaspora betrieben, sodass ab 1991 von einem massiven „Reimport“ zu sprechen ist. H.s Werke erscheinen aktuell in einer 50-bändigen Gesamtausgabe und umfassen neben wissenschaftlichen auch politische, publizistische und literarische Arbeiten.

L.: V. Prystajko – J. Šapoval, M. H. i HPU-NKVD. Trahične desjatylittja: 1924–34, 1996 (mit Bild); S. Plokhy, Unmaking Imperial Russia. M. H. and the Writing of Ukrainian History, 2005 (mit Bild); Lj. Vynar, M. H. i Naukove tovarystvo im. Ševčenka, 1892–1934, 2006 (mit Bild); Z. I. Zajceva, Ukrajinsʼkyj naukovyj ruch. Instytucionalʼni aspekty rozvytku. Kinecʼ XIX – počatok XX st., 2006, s. Reg.; I. Hyryč, M. H., 2016 (mit Bild); Deržavnyj archiv Lʼvivsʼkoji oblasti, Centralʼnyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukrajiny, m. Lʼviv, beide L’viv, Centralʼnyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukrajiny, Kyjiv, alle UA.
(M. Rohde)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)