Hybeš Josef, Ps. Pilník, Politiker, Gewerkschafter und Journalist. Geb. Daschitz, Böhmen (Dašice, CZ), 29. 1. 1850; gest. Brünn, Tschechoslowakei (Brno, CZ), 19. 7. 1921 (Ehrengrab); röm.-kath., später konfessionslos. Sohn eines Hauswebers und Textilarbeiters. – Nach der Volksschule arbeitete H. in Fabriken Ostböhmens, wurde Webergehilfe und übersiedelte 1867 nach Wien, wo er sich tschechischen Arbeiterbildungsvereinen und dem Fachverein der Weber anschloss. 1868 beteiligte er sich an der Gründung des Ersten Allgemeinen Arbeiter-Bildungsvereins in Wien. Als Partner und zeitweise Gegenspieler von →Viktor Adler gehörte H. ab 1876 über mehrere Jahrzehnte dem Zentralausschuss der österreichischen Sozialdemokratie an. Der Vertreter des tschechischen radikalen Flügels nahm auch 1878 auf dem Gründungskongress der tschechoslawischen Sozialdemokratie in Břevnov bei Prag eine Führungsposition ein, ohne dadurch seine Stellung in der österreichischen Gesamtpartei zu gefährden. 1879 begann seine journalistische Tätigkeit, die den wegen „Geheimbündelei“ mehrfach Inhaftierten und Verurteilten 1881 in die Redaktionsleitung der Wiener „Dělnické listy“ und der „Zukunft“ sowie – nach seiner Ausweisung 1884 aus Wien und 1885 aus Prag – 1886 zum Verleger der Zeitung „Hlas lidu“ in Proßnitz und ab 1887 schließlich in Brünn zum Redakteur und später langjährigen Herausgeber des mährischen Parteiorgans „Rovnost“, der Parteizeitschrift „Ženský list“ sowie der Gewerkschaftszeitung „Textilník“ führte. Ende der 1880er-Jahre übersetzte er Teile von Karl Marx’ „Das Kapital“ ins Tschechische und trat ab 1890 mit tschechischsprachigen Darstellungen als Historiograph der Arbeiterbewegung hervor. Engagiert arbeitete H. zudem als Funktionär des österreichischen Textilarbeiterverbands in Brünn. Aufgrund seines Eintretens für einen Ausgleich zwischen den sozialdemokratischen Parteiflügeln und seiner Rolle beim tschechoslawischen Einigungsparteitag von 1887 wurde er 1888 zum Vizepräsidenten des Hainfelder Vereinigungsparteitags gewählt und arbeitete am Parteiprogramm der gesamtösterreichischen Sozialdemokratie mit. 1899 hielt er auf dem Brünner Parteitag, der das sozialdemokratische Nationalitätenprogramm formulierte, das Hauptreferat. Ab 1889 nahm H. an Konferenzen der Sozialistischen Internationale teil, wo er für die Anerkennung der Tschechen als selbstständige Nation eintrat. 1897 gehörte er zusammen mit vier anderen tschechischen Sozialdemokraten zu den ersten Abgeordneten seiner Partei im Wiener Reichsrat und verteidigte bei allen weiteren Wahlen bis 1918 erfolgreich sein Mandat. Im Parlament formulierte H. gleich zu Beginn seiner Tätigkeit den Entwurf der „anti-staatsrechtlichen Erklärung“ der tschechischen Sozialdemokraten, wurde 1897 wegen seiner Beteiligung am „Sturm auf das Präsidium“ für einige Sitzungstage ausgeschlossen und war 1897–1907 stellvertretender Vorsitzender des gesamtösterreichischen sozialdemokratischen Klubs, für den er eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien strikt ablehnte. In Brünn war der Gewerkschafts- und Parteiführer sowie Gründer der Abstinenzler- und Esperanto-Bewegung ab 1903 einer der Agitatoren für das allgemeine Wahlrecht und gegen den Mährischen Ausgleich von 1905. Der mährische Landtag, dem er 1906–18 angehörte, entsandte ihn in den Landesschulrat. Ab 1907 hauptberuflich Vorsitzender der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse in Brünn, gründete und leitete er dort ab 1907 auch eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft. 1910–18 stand er zudem der Union der Tschechischen Arbeiterschaft in Österreich vor. Trotz vielfacher Differenzen mit der tschechoslawischen sozialdemokratischen Parteileitung in Prag entschied sich H. beim Auseinanderbrechen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften entlang nationaler Trennlinien 1911 für die Mehrheitsfraktion der tschechoslawischen autonomistischen Partei. Nach 1918 vertrat er in der tschechoslowakischen Nationalversammlung weiterhin die tschechische Sozialdemokratie, für die er 1920 in den Senat gewählt wurde. Als Vertreter des linken Parteiflügels zählte er 1921 jedoch zu den Mitgründern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) und wurde deren erster Klubobmann im Senat sowie Partei-Ehrenvorsitzender. H. gehört zu den bemerkenswertesten Gründungs- und Führungspersönlichkeiten der tschechischen wie der gesamtösterreichischen Arbeiterbewegung und war neben Petr Cingr der einzige tschechische Sozialdemokrat, der ab 1897 bis zu seinem Tod durchgängig Parlamentarier war. Der begabte Redner, Organisator, politische Stratege und Publizist wurde in der kommunistischen Tschechoslowakei als staatsmännischer „Held“ der KPTsch und Brünner Führer der Arbeiterbewegung idealisiert, seine Bedeutung für die österreichische Sozialdemokratie wird hingegen allgemein unterschätzt.
L.: AZ, 28. 3. 1897, 29. 1. 1910 (m. B.), 4. 2. 1920; Bourdet; Freund, 1907, 1911 (m. B.); Heller 2/1; Otto; Otto, Erg.Bd.; Z. Šolle, Průkopníci, 1975, bes. S. 153–238; A. Verbík, J. H. ve světle archívních dokumentů, in: Časopis matice moravské 94, 1975, S. 224–231; Ideologická konference ke 125. výročí narození J. H., 1975; J. H., ed. O. Franěk, 3 Bde., 1976 (m. B.); ders., Maršál chudých, 1980; Z. Šolle, Friedliche Zusammenarbeit der fortschrittlichen Kräfte in der tschechischen und österreichischen Gesellschaft, in: Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich 1, 1981, S. 264–272; V. Bednářová, J. H. a brněnské ženské hnutí, in: Vlastivědný věstník moravský 36, 1984, S. 100–103; J. Tomeš, Průkopníci a pokračovatelé ... 1878–2003, 2004, S. 58 (m. B.); P. Kosatík, Čeští demokraté, 2010, S. 78–83 (m. B.); R. Luft, Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft 2, 2012, S. A 146–A 150 (m. W. u. L.).