Jerusalem Wilhelm, Philosoph und Pädagoge. * Dřenitz (Dřenice, Böhmen), 11. 10. 1854; † Wien, 15. 7. 1923. Stud. 1872–76 an der Univ. Prag klass. Philol., befaßte sich aber aus Familientradition während der Gymn.- und Univ. Stud. auch eingehend mit dem Stud. des Hebr., des Alten Testamentes und des Talmuds. 1876 Supplent am Gymn. Prag-Neustadt, 1878 Gymn. Prof. in Nikolsburg, 1885 bis 1920 in Wien VIII.; 1878 Dr.phil. (Prag), 1891 Priv. Doz. für Phil. an der Univ. Wien, 1903 Erweiterung der Lehrbefugnis auf Pädagogik, 1920 ao. Prof. der Phil. und Pädagogik an der Univ. Wien, 1923 tit. o. Prof. Grundrichtung von J.s Phil. ist die genet., biolog, und soziolog. Betrachtungsweise des menschlichen Geisteslebens. In der Psychol. Schüler von W. Wundt, bot er insbesondere für die Probleme der Allgemeinvorstellung („Inbegriff der biolog. wichtigen Merkmale eines Objektes oder einer Klasse von Objekten“), des Urteilsvorgangs („fundamentale Apperzeption“), der Zeitanschauung, der Einteilung der Affekte u. a. eigene Fassungen. Sein erkenntnistheoret. Standpunkt ist ein empir. fundierter krit. Realismus, von dem aus er sich auch den Zugang zu einer Metaphysik offen hielt, deren Grundlagen der eth. Monotheismus der Propheten und die Überzeugung von der Einheit von Religion und Sittlichkeit bildeten. In der Soziol. ging er von der „Völkerpsychologie“ der Herbartianer Lazarus und Steinthal aus und schloß sich später der evolutionist.-ethnolog. Richtung von E. Westermarck und E. Dürckheim an. Für die Pädagogik leistete er Wertvolles namentlich zur Didaktik der klass. Sprachen und der philosoph. Propädeutik und zu den Problemen der höheren Allgemeinbildung und der Berufsaufgaben des Lehrers an höheren Schulen. In die Diskussion über Staat und Sittlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg griff er in bemerkenswerter Weise durch die Prägung des Begriffes der „Staatenwürde“ ein. Er setzte sich auch für das richtige Verständnis des amerikan. Pragmatismus und für Einführung der Soziol. auf den Hochschulen ein.