Kaindl Raimund Friedrich, Historiker und Volkskundler. Geb. Czernowitz, Bukowina (Černivci, UA), 31. 8. 1866; gest. Waltendorf (Graz, Steiermark), 14. 3. 1930; röm.-kath. Sohn des Lehrers Anton Kaindl und von Ernestine Kaindl, geb. Winkler; 1893 Heirat mit Ludmilla Kaindl, geb. Kisslinger. – Obgleich ihn sein Vater ursprünglich zum Rechtsanwalt bestimmt hatte, folgte K. seinem bereits während der Gymnasialzeit ausgeprägten Interesse für Volksüberlieferungen und Volksbrauchtum in der Bukowina und studierte 1885–91 Germanistik, Geographie und Geschichte an der Universität Czernowitz; 1891 Dr. phil. und Lehramtsprüfung. Seine Lehrer waren vor allem Ferdinand von Zieglauer und →Johann Loserth. 1891–93 absolvierte er den Kurs des Instituts für österreichische Geschichtsforschung in Wien. K. arbeitete 1892–96 zunächst als Supplent an der Oberrealschule in Czernowitz, 1896–1901 als Professor an der dortigen Lehrerbildungsanstalt. 1893 habilitierte er sich an der Universität Czernowitz mit der Studie „Beiträge zur älteren ungarischen Geschichte“; 1901 ao. Prof., 1904 o. Prof. für österreichische Geschichte, 1910/11 Dekan, 1912/13 Rektor. Außerdem war er ab 1902 Korrespondent der Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale, 1909 Konservator für die Bukowina. Nach dem russischen Einmarsch in die Bukowina 1914 floh K. mit seiner Familie zunächst nach Wien. Hier war er für den von ihm mitbegründeten Fürsorgeausschuss für die Deutschen aus Galizien und der Bukowina tätig, bevor er 1915 einem Ruf an die Universität Graz folgte, wo er bis zu seinem Tod die Lehrkanzel für österreichische Geschichte innehatte. K. widmete sich in zahlreichen Studien den Nationalitätenverhältnissen der Bukowina und Galiziens. Seine frühen Veröffentlichungen über die kleineren Nationalitätengruppen der Rumänen, Lippowaner und Juden, die in diesen Kronländern lebten, waren zu ihrer Zeit einmalig. K. bemühte sich zudem um die Aufwertung der Volkskunde als Hilfswissenschaft der Geschichte und veröffentlichte mit „Die Volkskunde“, 1903, die erste Darstellung über den aktuellen Stand dieses Faches. Mit seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, der dreibändigen „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern“, 1907–11, etablierte sich K. als führender Vertreter einer großdeutschen Historiographie. Sein Anliegen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der deutschen Kolonisten in den östlichen und südöstlichen Kronländern der Habsburgermonarchie zu stärken, suchte er durch die Veranstaltung von vier Tagungen der Karpatendeutschen (u. a. 1911 in Czernowitz, 1913 in Wien) einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Erst nach 1918 wurde K. in der Geschichtswissenschaft stärker bekannt, als er das Scheitern des großdeutschen Gedankens 1848/49 und den folgenden Siegeszug der kleindeutschen Geschichtsschreibung in Deutschland für den Zusammenbruch der Mittelmächte am Ende des 1. Weltkriegs mit verantwortlich machte. In publizistischer Agitation gegen die Friedensverträge von Versailles und St. Germain trat er für eine föderative Neuordnung des Donauraums ein, die den Anschluss Österreichs an Deutschland mit umfassen sollte. Sein Werk „Oesterreich, Preußen, Deutschland: Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung“, 1926, in dem er seine diesbezüglichen Positionen wissenschaftlich zu begründen suchte, löste unter seinen Fachkollegen großteils heftigen Widerspruch aus. Die Polemik um dieses Buch brachte deutlich zum Ausdruck, dass K. in Österreich eine wissenschaftliche Randposition einnahm, die sich mit der auf einen Ausgleich zwischen großdeutscher und kleindeutscher Geschichtsauffassung abzielenden „Wiener Schule“ der Geschichtswissenschaft nicht vereinbaren ließ.
L.: NDB; A. Blase, R. F. K. (1866–1930). Leben und Werk, 1962 (m. W. u. L.); R. F. K. 1866–1966, red. A. Adler, Graz 1966 (Kat.; m. B. u. W.); A. A. Klein, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 57, 1966, S. 141–173 (m. B.); H. Prelitsch, Der „Karpatendeutsche“ R. F. K., in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 15, 1966, S. 198–203 (m. B.); F. Gottas, Wo man hinblickt, liegt Neuland. Über den „karpatendeutschen“ Historiker R. F. K. (1866–1930), in: Südostdeutsches Archiv 34/35, 1991/92, S. 150–169; R. Wagner, R. F. K. – der Karpatendeutsche, in: Kaindl-Archiv 9, 1992, S. 3–10; W. Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, 1993, s. Reg.; H. F. Fooken, R. F. K. als Erforscher der Deutschen in den Karpatenländern und Repräsentant großdeutscher Geschichtsschreibung, 1996; M. F. Knor, R. F. K. und die Wiener Schule, 1999; A. Pinwinkler, R. F. K. Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, in: Österreichische Historiker 1900–1945 …, ed. K. J. Hruza, 2008, S. 125–154 (m. B. u. L.); Diözesanarchiv, UA, beide Graz, Steiermark.