Kelsen, Hans (1881–1973), Rechtswissenschaftler

Kelsen Hans, Rechtswissenschaftler. Geb. Prag, Böhmen (Praha, CZ), 11. 10. 1881; gest. Orinda, California (USA), 19. 4. 1973; mos., ab 1905 röm.-kath., ab 1912 evang. AB. Aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie stammend, wuchs K. seit seinem fünften Lebensjahr in Wien auf, absolvierte das Akademische Gymnasium (Matura 1900) und studierte dann Rechtswissenschaften an der Universität Wien; 1906 Dr. jur.; 1911 Habilitation. K. unterrichtete 1911–14 an der Exportakademie in Wien, wurde 1914–18 im Kriegsministerium in Wien verwendet und gehörte ab 1917 zu den Beratern des Kriegsministers →Rudolf Stöger-Steiner Frh. von Steinstätten. 1918 ao. Prof., 1919 o. Prof. für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Wien (1920/21 Dekan), wurde K. von Staatskanzler →Karl Renner im Mai 1919 beauftragt, Vorentwürfe zur österreichischen Bundesverfassung auszuarbeiten und war damit, sowie in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Experte bei den parlamentarischen Beratungen, maßgeblich am Zustandekommen des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 beteiligt. Ab 1919 auch Richter am Verfassungsgerichtshof, führte besonders seine Haltung in der Judikatur zu den sogenannten Dispensehen 1930 zu seinem Sturz. Er nahm einen Ruf an die Universität Köln an, wo er v. a. Völkerrecht lehrte (1932/33 Dekan), aber schon kurz nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ beurlaubt und Ende 1933 zwangspensioniert wurde. 1933–38 lehrte K. am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf (Genève). 1936 wurde er gegen starke Widerstände an die deutsche Universität Prag berufen, konnte dort aber nur drei Semester lehren und kehrte nach Genf zurück. 1940 musste K. in die USA emigieren, wo er an der Harvard Law School eine zeitlich befristete Lectureship erhielt. Ab 1942 lecturer, ab 1945 full professor an der University of California in Berkeley, emeritierte er 1952. K. wurde als der (weltweit) bedeutendste Jurist des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Sein Werk umfasst Rechtsphilosophie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Politologie und Soziologie. Am bedeutendsten ist das von K. entwickelte rechtstheoretische Konzept einer Reinen Rechtslehre, die er im gleichnamigen Buch 1934 zusammenfassend darstellte (2. Auflage 1960). In ihr kritisierte er den Methodensynkretismus der traditionellen Rechtswissenschaft und versuchte, „eine reine, das heißt: von aller politischer Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln.“ Trotz dieser methodologischen Abgrenzung beschäftigte sich K. auch intensiv mit politischer Ideologie. Besonders in seiner Arbeit „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920, 2. Auflage 1929) verteidigte er das System der parlamentarischen Demokratie gegen marxistische wie auch faschistische und sonstige antidemokratische Tendenzen jener Zeit. Seine Völkerrechtslehre war von Pazifismus geprägt. Große Hoffnungen setzte er in die Gründung der UNO, zu deren Charta er einen Kommentar verfasste.

W.: (s. auch Métall): H. K. Werke, 2007 ff.
L.: NDB; R. A. Métall, H. K., 1969 (m. B., W. u. L.); R. Walter, in: Juristen in Österreich 1987, S. 290-296; G. Stourzh, H. K., die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 309–334; N. Bersier-Ladavac, H. K. a Genève (1933-40), 1996 (m. B.); H. K.s stete Aktualität, 2003 (m. W.); R. Walter, H. K. als Verfassungsrichter, 2005; Th. Olechowski, Über die Herkunft H. K.s, in: Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 849–863; H. K.: Leben – Werk – Wirksamkeit, 2009 (m. B.); Th. Olechowski - J. Busch, H. K. als Professor an der Deutschen Universität Prag, in: Československé právo a právní věda v meziválečném období 1918-38 a jejich místo v Evropě, 2010, S. 1106–1134.
(Th. Olechowski)  
Zuletzt aktualisiert: 15.11.2014  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 1 (01.03.2011)