Kramář Karel, Politiker. * Hochstadt a. d. Iser (Vysoké n. J., Böhmen), 27. 12. 1860; † Prag, 26. 5. 1937. Sohn eines Baumeisters; stud. Rechtswiss. und Soziol. an den Univ. Prag (1884 Dr.jur.), Straßburg und Berlin (bei Schmoller), besuchte auch die École des sciences politiques in Paris. Als Fabrikant finanziell unabhängig, befaßte er sich zunächst mit finanzgeschichtlichen und volkswirtschaftlichen Stud., die ihn in die Politik führten. Bereits 1891 kam er als Mitgl. der „Realisten“ mit Masaryk und Kaizl (s. d.) in den österr. Reichsrat, 1894 auch in den böhm. Landtag. In diesen Körperschaften schloß er sich den Jungtschechen an, erlangte bald eine angesehene parlamentar. Stellung und war zur Zeit der Badenikrise Vizepräs. des Abgeordnetenhauses. Als solcher unterstützte er die Niederringung der Obstruktion mit Polizeigewalt. In dem den polit. Alltag bestimmenden Nationalitätenhader in den böhm. Ländern trat er nicht hervor, obwohl er an allen dt.-tschech. Ausgleichsverhandlungen teilnahm. Mehr interessierte ihn die Stellung der Tschechen im Gesamtstaat. Er verfocht den Gedanken des böhm. Staatsrechtes, bejahte aber den Fortbestand der österr.-ung. Monarchie, soferne ein Umbau den slaw. Völkern die Führung sichern würde. Aus diesen Erwägungen heraus trat er für die Einführung des allg. Wahlrechtes ein und leitete die sogenannte positive Politik der Jungtschechen (Zustimmung zur Annexion und zum Kriegsleistungsgesetz) ein. K. war durch zwei Jahrzehnte eine polit. sehr einflußreiche Persönlichkeit, zu Ministerpräs. Stürgkh und zu Statthalter Thun hatte er enge Beziehungen. Eine slaw. bestimmte Donaumonarchie hätte allerdings eine Revision der Außenpolitik zur Voraussetzung gehabt, für die K., besonders in den Delegationen, mit Nachdruck eintrat. Den Dreibund nannte er ein überspieltes Luxusklavier und befürwortete ein Bündnis mit Rußland. Von dort her war auch sein Gedanke des Neoslawismus bestimmt, doch gelang es ihm nicht, die Abneigung der Polen gegen das zarist. Rußland zu überwinden. K. war ab 1900 mit einer Russin, die einen Besitz auf der Krim hatte, verheiratet. Hielt er auch enge Beziehungen zu russ. Regierungskreisen, so blieb er doch auf dem Boden des österr. Staatsgedankens, soferne die dt. Vorherrschaft ausgeschaltet werden könnte. Sollte dies nicht gelingen, dachte er an einen von St. Petersburg regierten slaw. Bundesstaat. Im Juni 1914 spielte er eine Denkschrift solchen Inhalts in russ. Hände. Ein Jahr später wurde er, nachdem sich einzelne tschech. Truppenteile als unverläßlich erwiesen hatten, auf Betreiben des Armeeoberkommandos mit anderen tschech. Politikern verhaftet. In dem folgenden langwierigen Prozeß vor dem Landwehrgericht Wien wurde die gesamte tschech. Politik seit 1848 aufgerollt, die genannte Denkschrift blieb jedoch damals unbekannt. Obwohl der Nachweis einer hochverräter. Betätigung mißlungen war, wurde K., der sich sehr geschickt verteidigte, zum Tode verurteilt, später jedoch zu 15 Jahren schweren Kerkers begnadigt. Durch die Juliamnestie von 1917 erlangte er vollends die Freiheit. Obwohl ihn nunmehr die Gloriole des Märtyrers umgab, kam er nicht mehr zu einer nachhaltigen polit. Wirksamkeit. Die Gründung des tschechoslowak. Staates vollzog sich nicht nach seinem Konzept, sondern nach den Ideen der westlich orientierten Emigration unter Masaryk und Benesch. Wohl wurde K. der erste Min.-Präs., die von ihm gegründete nationaldemokrat. Partei schnitt aber bei den folgenden Wahlen schlecht ab. Am 9. 2. 1919 wurde auf ihn ein Attentat verübt, die von ihm vertretene bürgerlich-demokrat. Richtung wurde von sozialist. bestimmten Kräften überspielt, so daß K. im Juni 1919 zurücktreten mußte, obwohl er auf der Friedenskonferenz in Paris die tschech. Aspirationen mit Geschick zu vertreten verstand. Sein Gedanke einer Intervention im russ. Bürgerkrieg erwies sich als irreal und trug wesentlich zum endgültigen Bruch mit Benesch bei, dessen sowjetfreundliche Außenpolitik er ablehnte. Im Prager Parlament, dem er bis zu seinem Tode angehörte, kam er nicht mehr zur Geltung.