Lammasch Heinrich, Jurist. * Seitenstetten (N.Ö.), 21. 5. 1853; † Salzburg, 6. 1. 1920. Sohn eines Notars; stud. an der Univ. Wien Jus, 1876 Dr.jur., 1879 Priv.Doz. für Strafrecht an der Univ. Wien, 1882 ao. Prof., 1885 o. Prof. für Strafrecht, Rechtsphil. und Völkerrecht an der Univ. Innsbruck, 1889 o. Prof. für Strafrecht und Völkerrecht an der Univ. Wien. L. war Mitverfasser eines Entwurfs für ein neues österr. Strafgesetzbuch; seine Ernennung zum Justizmin. wurde 1899, als er ins Herrenhaus (Mitgl. der Mittelpartei) berufen wurde, erwogen. Schon 1887 wurde L. auf Grund seiner auch völkerrechtlich wichtigen Arbeiten über Auslieferung und Asylrecht in das Institut de Droit International gewählt. Er war völkerrechtlicher Berater der österr.-ung. Delegationen bei der Ersten (1899) und Zweiten (1907) Haager Friedenskonferenz sowie vor der Brüsseler Zucker-Komm. (1903). Er wurde als Mitgl. des 1899 gegründeten Ständigen Schiedshofes im Haag zweimal zum Mitgl. des Schiedsgerichts berufen — im Venezuela-Streitfall (1904) und im Maskat-Fall (1905) — und zweimal zum Präs. des Schiedsgerichts — im Orinoco-Fall (1910) und im brit.-amerikan. Streitfall über die Fischerei im Nordatlantik (1910), wobei vor allem das stark von ihm geprägte Urteil bei letzterem zu seinem großen internationalen Ansehen beitrug. In der Innenpolitik vertrat L., der aus seiner kath. Weltanschauung kein Hehl machte, eine gemäßigt-konservative Richtung, aus der heraus er die Einführung des allg. Wahlrechtes bekämpfte. 1910 trat er dem Thronfolger Franz Ferdinand (s. d.) näher, ohne aber in dessen engerem Kreis eine größere Rolle zu spielen. Den Kriegsausbruch 1914 sah er zunächst als einen Verteidigungsakt an, suchte aber zu verhindern, daß daraus eine Eroberungspolitik entstünde. Sein Streben richtete sich bald auf das Ziel eines Verständigungsfriedens, der allerdings eine Änderung der Außenpolitik zur Voraussetzung gehabt hätte. L., war schon lange vor 1914 für eine westliche Orientierung bei Lösung des Bündnisses mit dem Dt. Reich eingetreten. Starken Eindruck machten auf ihn die von Wilson verbreiteten Ideen sowie der Gedanke eines Völkerbundes. Auf dieser Grundlage glaubte er, einen Verständigungsfrieden aufbauen zu können, suchte Verbindungen mit dem Westen, die aber, wie ein Gespräch mit dem Amerikaner Herron am Beginn des Jahres 1918, zu keinem Ergebnis führten. L. selbst hielt im Juni und Oktober 1917 und im Februar 1918 im Herrenhaus bedeutsame Friedensreden, die ihm aber starke Gegnerschaften eintrugen. Die Aufforderung K. Karls (s. d.), an die Spitze einer österr. Regierung zu treten, lehnte er zweimal ab, erst in der Krise des Kriegsendes nahm er am 25. 10. 1918 an. Sein Name sollte nach außen die Etikette einer Friedensregierung verbürgen, im Innern konnte diese nur mehr eine ruhige Liquidierung des Vielvölkerstaates ins Auge fassen. Dazu gehörte auch der Verzicht des K.s auf die Weiterführung der Regierungsgeschäfte, den L. diesem am 11. 11. 1918 anriet. Am gleichen Tage wurde sein Kabinett enthoben. L. setzte dann noch sein Ansehen und seine Verbindungen dafür ein, erste Kontakte der Republik mit den früheren Feindstaaten herzustellen. Er erwog und vertrat als erster die dauernde Neutralität der Republik Österr., vor allem in der Schweiz, wo er sich 1919 aufhielt, und als Mitgl. der österr. Delegation in Saint-Germain. Artikel 88 des Vertrages von Saint-Germain enthält einige dieser Gedanken. In seinen letzten Aufsätzen und Zeitungsartikeln bemühte er sich um Erleichterungen des Vertrages, vor allem in der Südtirolfrage und der Reparationsforderungen, deren Streichung er allerdings ebensowenig erleben sollte, wie die von ihm schon 1919 geforderte Wirtschafts- und Finanzhilfe des Völkerbundes an die neue Republik Österr. Ende 1918 stellte L. einen österr. Entwurf für den Völkerbundpakt (dt. und französ. Veröff. anfangs 1919) fertig. Drei von L. verfaßte Artikel für die Völkerbundsatzung samt Begründung lagen der Pariser Friedenskonferenz vor und wurden vom Alliierten Rat gewürdigt. L., vielfach geehrt und ausgezeichnet, u. a. Dr.h.c. der Univ. Oxford, wurde 1911 in den Europ. Rat der Carnegie-Stiftung für den Internationalen Frieden berufen, 1914 Ehrenpräs. des diese Ziele vertretenden österr. Ver. „Para Pacem“. Dem utop. Pazifismus stand L. jedoch ablehnend gegenüber.