Lanzer, (Janina) Wanda; geb. Landau (1896–1980), Bibliothekarin, Archivarin und Volksbildnerin

Lanzer (Janina) Wanda, geb. Landau, Bibliothekarin, Archivarin und Volksbildnerin. Geb. Wien, 25. 5. 1896; gest. ebd., 17. 11. 1980 (begraben: Stockholm, S); mos., ab 1918 konfessionslos. Großnichte von →Ludwig Gumplowicz, Tochter des Juristen und polnischen Offiziers Max Norbert Landau, eigentl. Moses Nachmann Landau (geb. Tyśmienica, Galizien / Tysmenycja, UA, 28. 9. 1870; gest. Wien, nicht Warszawa, 24. 7. 1927), und der Politikerin Helene Bauer, geb. Gumplowicz, ab 1918 geschiedene Landau (geb. Krakau, Galizien / Kraków, PL, 13. 3. 1871; gest. Berkeley, CA, USA, 20. 11. 1942), die 1905 an der Universität Zürich in Staatswissenschaften (Nationalökonomie und Volkswirtschaft) promovierte und ab 1920 in 2. Ehe mit →Otto Bauer verheiratet war, Nichte von →Maximilian Ernest Gumplowicz und dem politischen Journalisten Władysław Gumplowicz (geb. Krakau, 14. 11. 1869; gest. Warschau, 10. 9. 1942), Schwester des Ökonomen Władysław (Wladek) Landau (geb. 5. 9. 1901; gest. 1933), Mutter der Direktorin des Stockholmer Schwerhörigenvereins Helena (Helene Franziska) Lanzer, verheiratete Lanzer-Sillén, und der Arztsekretärin Gertrude (Angela) Lanzer (geb. Wien, 2. 1. 1933; gest. Uppsala, S, 11. 11. 2004); ab 1925 verheiratet mit dem Rechtsanwalt Felix Lanzer (geb. Wien, 16. 1. 1898; gest. ebd., 31. 1. 1939). – L. wurde mit ihren Brüdern zweisprachig, deutsch und polnisch, erzogen. Das Elternhaus war Mittelpunkt der polnischen sozialistischen Emigration; zu den Gästen zählten Józef Piłsudski, Herman Diamand, Ignacy Daszyński, →Herman Liebermann, aber auch österreichische Sozialisten wie →Karl Renner und Rudolf Hilferding. Nach dem Besuch der dreijährigen Bürgerschule sowie einem Jahr am Mädchenlyzeum von Salome (Salka) Goldmann in Wien 19, wo →Sigmund Freuds Tochter Anna Freud ihre Schulkollegin war, übersiedelte sie mit ihren beiden Brüdern nach Lemberg zu ihrem Vater, der 1911 seine Wiener Rechtsanwaltskanzlei dorthin verlegt hatte. L.s Mutter kam öfters zu Besuch und hielt 1913 mehrere Vorträge, arbeitete aber die meiste Zeit in Wien, wo sie die engste Mitarbeiterin von Bauer geworden war. Nach der Matura in Krakau 1914 unterrichtete L. eine Zeit lang Deutsch an polnischen Gymnasien und begann an der Universität Krakau ein Studium an der philosophischen Fakultät. 1922 übersiedelte sie zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater und setzte an der juridischen Fakultät der Universität Wien ihr Studium der Staatswissenschaften fort. Neben vergleichender Politikwissenschaft und -geschichte hörte sie auch Vorlesungen in Ökonomie und Statistik; 1924 promovierte sie bei →Karl Grünberg mit der Dissertation „Marxistische Krisentheorien“ (Dr. rer. pol.). Anlässlich der von den Sozialdemokraten kritisierten „Genfer Protokolle“ vom Oktober 1922 hielt L. in Wien 15 eine mehrteilige Vortragsreihe vor der Sozialistischen Jugend über das Arbeiterprogramm Ferdinand Lassalles. Als sie deren herkunftsbedingte Bildungslücken erkannte, bot L. einen mehrjährigen Mittelschulkurs für sozialistische Arbeiter bis zur Matura an. Anfang 1923 eröffnete sie zunächst in einem Privatlokal einen täglichen Abendkurs. Lehrkräfte wurden aus dem Kreis der Wiener sozialistischen Mittelschullehrer herangezogen. Mit dieser Idee des zweiten Bildungswegs mit der Möglichkeit zum Zutritt zu einer Hochschule und ihrer Initiative zur Erwachsenenbildung war sie eine der Ersten im deutschsprachigen Raum. Die von ihr gegründete Arbeitermittelschule wurde zu einem Erfolgsmodell für die Idee des allgemeinen Zugangs zu Bildung, ungeachtet der Herkunft oder des Geschlechts. 1925 gründete L. den Verein Mittelschulkurs sozialistischer Arbeiterinnen und Arbeiter. 1928 beendeten 30 Personen das Mittelschulstudium. Bis 1938 absolvierten 277 Personen diesen Abendkurs, 67 in der Folge auch ein Studium und zwei Teilnehmer habilitierten sich. L. arbeitete 1924–26 als Bildungsberaterin sowie Forscherin im Berufsberatungsamt der Stadt Wien und wurde 1927 Fachbeamtin der Staatswissenschaftlichen Bibliothek der Arbeiterkammer (AK) Wien. Außerdem schrieb sie für die „Blätter für Krankenfürsorge“ für die sozialdemokratische Partei. 1931 hielt sie im Sozialdemokratischen polnischen Verein Proletariat einen Vortrag zum Thema „Gehört die Frau in die Politik?“. 1934 wurde L. aus der Arbeiterkammer entlassen, der Mittelschulkurs zunächst „entpolitisiert“ und 1938 eingestellt. L.s Ehemann wurde im selben Jahr als Magistratsbeamter und Jurist bei der Gemeinde Wien gekündigt und von der Gestapo bedroht. Seine Versuche, Österreich zu verlassen, blieben erfolglos. Nach seinem Tod flüchteten L. und ihre zwei kleinen Töchter im Frühjahr 1939 mit Hilfe sozialdemokratischer Parteifreunde (Fackliga och Politiska Emigranternas Hjälpkommitté), v. a. des Außenministers Rikard Sandler, nach Stockholm, wo sie als Archivarin und Dokumentarin im dortigen Rathaus arbeitete, nebenbei Nachhilfeunterricht erteilte und Texte übersetzte. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs betreute sie in vier Sprachen (Deutsch, Polnisch, Französisch und Schwedisch) in Sigtuna Holocaust-Überlebende aus den befreiten Konzentrationslagern, die im Rahmen von Folke Bernadottes Rettungsaktion „Weiße Busse“ („Vita bussar“) nach Schweden kamen. 1949 wurde L. als Archivarin mit der Aufarbeitung des Nachlasses des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hjalmar Branting im Stockholmer Archiv der Arbeiterbewegung (Arbetarrörelsens arkiv) betraut, wo sie schließlich bis zu ihrer Pensionierung 1964 blieb. Bereits im Herbst 1957 hatte sie von der AK den Auftrag erhalten, das sogenannte Sozialarchiv u. a. mit den Nachlässen von →Viktor Adler und Friedrich Adler aufzubauen, weshalb sie 1964 nach Wien zurückkehrte. Sie gehörte weiters dem Herausgeberkomitee der neunbändigen Otto Bauer-„Werkausgabe“ (1975–80) an.

Weitere W.: Säuglingspflege Kleinkindpflege, 1932 (gem. mit I. Zimmermann); Das Stockholmer Archiv der Arbeiterbewegung, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1965; Zur Genesis des „Adler-Archivs“, in: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 19, 1979 (mit Bild). – Ed.: V. Adler im Spiegel seiner Zeitgenossen, 1968 (gem. mit E. K. Herlitzka).
L.: AZ, 19. 11. 1922, 18. 3. 1928; Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen 15, 1928, S. 132; Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 21, 1981, S. 18 (mit Bild); H. Gruber, in: David 18, 2006, Nr. 71, S. 56ff.; B. Kintaert, in: Bibliothekarinnen auf der Flucht. Verfolgt, vertrieben, vergessen, ed. I. Korotin, 2007, S. 169ff.; H. Lanzer-Sillén, in: Im Exil in Schweden, ed. I. Nawrocka, 2013, S. 236 (mit Bild); B. Simschitz, Aufbruch aus den Verhältnissen?, phil. Diss. Graz, 2013, S. 14f.; biografiA. Lexikon österreichischer Frauen 2, 2016; IKG, UA, beide Wien; Riksarkivet Marieberg, Stockholm, S; Mitteilung Helena Lanzer-Sillén, Stockholm.
(B. Kintaert – I. Nawrocka)   
Zuletzt aktualisiert: 27.11.2017  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 6 (27.11.2017)