Meinl, Julius (1869-1944), Großkaufmann

Meinl Julius, Großkaufmann. * Wien, 18. 1. 1869; † Alt-Prerau (NÖ), 16. 5. 1944. Sohn des Großkaufmannes Julius M. (* Graslitz, Kraslice, Böhmen, 10. 4. 1824; † Wien, 24. 12. 1914), der zuerst Lehrling im Farbwarengeschäft eines Onkels in Prag war, 1862 in Wien ein Lebensmittelgeschäft gründete, Kaffeemischungen nach eigenen Rezepten zusammenstellte und als erster „täglich frisch gebrannten Kaffee“ verkaufte, was bis zur Gewerbeordnung von 1859 nur Kaffeehäusern gestattet war; nach Absolv. der Handelsakad. und des Einjährigenjahres bei der Wr. Reitenden Art.Div. (Reservelt.) praktizierte M. in London und trat 1889 in das väterliche Geschäft ein. Er errichtete zunächst in der Neustiftgasse in Wien VII. eine Kakao- und Schokoladenfabrik, die 1905 nach Wien XVI. übersiedelte. Hier entstand 1910 auf einem Areal von 2 ha das heutige Zentralwerk, zu welchem eine Reihe weiterer Produktionsstätten kam. Ständiger Berater des Kriegsmin., organisierte er 1916 die Kriegskaffeezentrale, setzte die Verteilung durch den legitimen Handel durch und sorgte für die Ermäßigung des Preises. Er gründete 1907 die einzige Berufsschule für kaufmänn. Lehrlinge, führte im selben Jahre die gänzliche Sonntagsruhe und 1931 die Fünftagewoche ein. Seinen Angestellten eröffnete er auf seinem Waldgut Annenthal ein Urlaubsheim. 1912 gründete er ein Importhaus in London und wurde zum Juror in The Lord Mayor’s Court berufen. M., ab 1913 Alleininhaber des Unternehmens, gilt als Begründer des Massenfilialsystems und des ersten Vertikalkonzerns der Lebensmittelindustrie in Österr.; unter seiner Leitung stieg die Zahl der Zweigstellen von 115 (1914) auf 493 (1937) an. 1919 wurde die österr. Fa. wie später auch die sieben Tochterges. in den Nachfolgestaaten und Deutschland in eine AG umgewandelt. Auf dem Finanzierungssektor war man dabei um die ständige Erhöhung des Eigenvermögens bestrebt (1919: 30 Millionen Kronen, d. h. 10%, 1937: 17, 104.560 S, d. h. 79% des Gesamtvermögens). In Österr. verfolgte man in der Zwischenkriegszeit vor allem den Ausbau der Zentralwerke, welcher mit einer ständigen Erweiterung des Erzeugungsprogramms Hand in Hand ging (1920 Essig- und Senffabrikation, 1921 Teigwarenerzeugung und Margarineproduktion etc.). Bis 1938 wurden elf neue Ges. in den Konzern eingegliedert (darunter 1935 die Brüder Kunz AG, der bisher schärfste Konkurrent), womit die Fa. M. zum wichtigsten Lebensmittellieferanten in Österr. wurde. Das hohe Ansehen, das M. in England genoß, kam seiner Friedensaktion zustatten, der er sich im Ersten Weltkrieg mit allen Kräften widmete. Seine Bemühungen galten einem Verständigungsfrieden und damit in unlösbarem Zusammenhang der Bereinigung der Nationalitätenfrage. Er verkündete in der von ihm 1915 gegründeten Österr.-polit. Ges. sein Programm, welches auf der Einsicht beruhte, daß die Friedensbewegung von Wien ausgehen solle, und gewann Lammasch (s. d.) zum Mitarbeiter. Im Juni 1917 wollte K. Karl (s. d.) ein Min. Lammasch–Meinl–Redlich ernennen mit der Aufgabe, die Verfassung im föderalist. Sinne umzugestalten und den Krieg zu beenden. Dieser Plan scheiterte jedoch. Im Dezember 1917 unterhandelte M. in der Schweiz mit engl. Diplomaten und mit dem Vertrauensmann Wilsons, Herron, und gewann dann die Zustimmung K. Wilhelms und Ludendorffs für die amerikan. Vermittlung. Die Friedensaktion M.s scheiterte an der ablehnenden Haltung der Mittelmächte. Ein Ergebnis der Verbindung M.s durch Herron mit Staatssekretär Lansing und Wilson ist die Fassung des zehnten der „Vierzehn Punkte“, welcher sich gegen die geplante Zerstückelung Österr.-Ungarns richtete. M. nahm noch an den Vorbereitungen zum Friedensgespräch Lammasch–Herron in den ersten Februartagen 1918 teil. Nach Kriegsende war M. im Auftrage der Regierung in der Schweiz für die Nahrungs- und Wirtschaftshilfe an Österr. mit Erfolg tätig.

L.: Die Presse vom 26. 9. 1962 und 11. 2. 1969; Interne Mitt. der Fa. J. M., 1911–34; Das Haus J. M., 1942; I. Proksch, Das Haus J. M. Die Entwicklung eines österr. Unternehmens von 1862–1937, phil. Diss. Wien, 1970; J. Mentschl, Österr. Wirtschaftspioniere, 1959, S. 145 ff.; Jb. der Wr. Ges., 1929; Die geistige Elite Österr., red. von M. Klang, 1936; N. Österr. Biogr., Bd. 16, 1965, S. 140 ff.; R. Riedl, Die Industrie Österr. während des Krieges, 1932; C. Haußmann, Schlaglichter- Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen, 1924; R. Fester, Die Politik K. Karls und der Wendepunkt des Weltkriegs, 1925, S. 292; M. Pirie Briggs, G. Herron and the European Settlement, 1932; Das polit. Tagebuch J. Redlichs, bearb. von F. Fellner, Bd. 2, in: Veröff. der Komm. für neuere Geschichte Österr. 40, 1954, s. Reg.; J. May, W. Wilson and Austria-Hungary to the End of 1917, in: Festschrift für H. Benedikt, 1957; H. Benedikt, Die Friedensaktion der Meinlgruppe 1917/18. Die Bemühungen um einen Verständigungsfrieden nach Dokumenten, Aktenstücken und Briefen, in: Veröff. der Komm. für neuere Geschichte Österr. 48, 1962; The Papers of W. Wilson 1925–27, hrsg. von A. S. Link, Bd. 4, 1969.
(H. Benedikt–Η. Stekl)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 6 (Lfg. 28, 1974), S. 196f.
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