Orsi Paolo, Archäologe. * Rovereto (Trentino), 18. 10. 1859; † ebenda, 8. 11. 1935. Stud. 1878 Archäol. an der Univ. Wien bei Benndorf (s. d.), dann an der Univ. Padua. 1884 wurde O. italien. Staatsbürger, war bis 1887 als Lehrer in Alatri, später als Hilfsbibliothekar in Florenz tätig. Aus seinen Arbeiten zur Vorgeschichte seiner Heimat erwuchs das Interesse für die venet. Situlen und deren etrusk. Vorbilder, später für die phönik. und frühgriech. Bronzekunst. So wirkte O. bei der Hrsg. der aufsehenerregenden Funde von Halbherr (s. d.) in der Zeus-Grotte am kret. Ida mit. Die Berufung an das Archäolog. Mus. von Syrakus (1888), zunächst unter dem Dir. Cavallari, bestimmte seine wiss. Arbeitsrichtung. Durch unermüdliche topograph. Landbegehung und durch glückliche Funde wurde O. zum Begründer der Vorgeschichtsforschung in Ostsizilien, dann auch in Kalabrien, worüber er ab 1890 fast alljährlich in den „Notizie degli Scavi“ berichtete. Von der Steinzeit (Stentinello) über die mit Castelluccio bei Noto beginnenden vier bronzezeitlichen Entwicklungsphasen bis zur Begründung der griech. Kolonien in der frühen Eisenzeit, dann zu ihrem Aufblühen (Syrakus, Gela) und den Anfängen des monumentalen Tempelbaues erschlossen seine Ausgrabungen sowohl einheim. Binnensiedlungen der Sikuler wie Heiligtümer in Megara Hyblaia, Syrakus (Olympieion, Athenaion im Dom) und Nekropolen der Griechen, aber auch in den Felsgräbern der sikul. Binnenorte die Reste der spätantiken christlichen Rückzugssiedlungen. Als Puchstein, Petersen und Duhn das Interesse für Lokroi Epizephyrioi und Kroton in Kalabrien geweckt hatten, begann er sich auch damit zu beschäftigen. 1908–24 baute O. die topograph. Forschung in der Soprintendenza della Calabria auf, gründete 1920 die Società Magna Grecia als Fördererver. für die Grabungen der vier Soprintendenze Süditaliens und 1931 das Archivio storico per la Calabria e la Lucania. Er bestimmte die Lage der Griechenstädte Kaulonia (1912), Hipponion und Medma (1927) und legte auf Kap Krimisa b. Cirò das Heiligtum des Apollon Alaios frei. Als Pensionist arbeitete er 1931 auch in Westsizilien (S. Angelo Muxaro). Die Felsnekropolen von Ostsizilien und die sog. Basilianer-Kirchen der byzantin. Epoche, wie die fünfkuppelige Cattolica von Stilo, verdanken ihm Auffindung oder Wiederherstellung. Nur für diese Denkmäler Siziliens und Kalabriens liegen Smlg. seiner verstreuten Schriften vor. 1924 Senator des Kg.Reiches, 1929 Vizepräs. des Ist. di Archeologia. O. erwarb sich um die Erschließung der Frühzeit des Mezzogiorno mit interdisziplinären Methoden, wie er sie in Wien kennengelernt hatte, hervorragende Verdienste. Durch die Begründung der Ges. für die Erforschung Großgriechenlands befreite er das griech. Erbe Süditaliens von der Vernachlässigung durch eine romzentr. Forschung und wirkte dadurch auch an der Entwicklung eines regionalist. Geschichtsbewußtseins mit, das die Fortsetzung der Ausgrabungstätigkeit insbes. nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigte.