Palacký, Frantíšek (1798-1876), Historiker und PolitikerPalacký Frantíšek, Historiker und Politiker. * Hotzendorf (Hodslavice, Mähren), 14. 6. 1798; † Prag, 26. 5. 1876. Vater des Folgenden; Sohn eines Lehrers, stammte aus einer evang. Familie, die in den Traditionen der Böhm. Brüder wurzelte. Nach Besuch der Lateinschule in Trentschin (1809–12) und der evang.-theolog. Lehranstalt in Preßburg (1812–18) stand P. in Diensten mehrerer ung. und böhm. Adelsfamilien. 1823 ging er nach Prag, wo er Archivar der Gf. F. und K. Sternberg wurde. Zunächst mit dichter. und ästhet. Versuchen befaßt, schloß er sich bald romant. Strömungen an, um die tschech. Sprache und Literatur neu zu beleben und auf europ. Niveau zu heben. Er war von der Geschichtsphil. Herders stark beeinflußt und neigte auch sehr den Anschauungen Ludens zu, die ihm durch Stud.Kollegen, die nach Jena gegangen waren, vermittelt wurden. Stand er auch damals noch ganz in der dt. Kultursphäre, so sind doch Einwirkungen aus England (Blaire und Bolingbroke) nicht zu verkennen. P. wandte sich mehr und mehr der demokrat. Gedankenwelt zu, überwand, obwohl zum Landeshistoriographen der böhm. Stände bestellt, das ständ.-aristokrat. Geschichtsbild und wurde zu einem Repräsentanten der tschech. Sprachnation. Seine durch umfangreiche Quellensmlg. und Editionstätigkeit gewonnenen Erfahrungen hinderten ihn nicht, die Königinhofer Hs. zeitlebens für echt zu halten und gegensätzlichen Meinungen mit Nachdruck entgegenzutreten. Die Z. des Böhm. Landesmus., die er 1827–38 red., wurde sein Sprachrohr. 1836 erschien, zunächst in dt. Sprache, der 1. Bd. seiner Geschichte Böhmens. Sein Postulat einer friedlich-demokrat. slaw. Urges., die im Kampf mit den krieger.-feudal Germanen stand, beeinflußte intensiv das Geschichtsbild der Tschechen bis zu Masaryk (s. d.). Auch die starke Hervorhebung der nationalrevolutionären Komponente im Hussitentum tat ihre Wirkung. So wurde P. nicht nur ein bedeutender Geschichtsschreiber, der 1847 bei der Gründung der k. Akad. der Wiss. in Wien in diese aufgenommen wurde, sondern auch ein Erzieher seines Volkes. Polit. trat er erst 1846 mit einer Denkschrift über eine Reform der böhm. Landesverfassung stärker hervor, umso mehr eröffnete ihm das Revolutionsjahr 1848 ein weites Betätigungsfeld. Eine Berufung als Unterrichtsmin. in das Kabinett Pillersdorf nahm er nicht an, in seinen staats- und nationalpolit. Anschauungen fand er zunächst noch keine feste Linie. P. nahm zwar am Frankfurter Vorparlament teil, richtete aber an die Nationalversmlg. seine bekannte Absage. Ebenso bekannt ist sein Ausspruch, daß die österr. Monarchie um der Humanität willen geschaffen werden müßte, wenn sie noch nicht bestünde. Für den inneren Aufbau vertrat P. ein föderalist. Programm, nur in der Differenzierung zwischen einer staatsrechtlichen und einer nationalitätenrechtlichen Lösung schwankte er, in diesem Punkt von Löhner (s. d.) beeinflußt, noch in Kremsier, wo er dem Verfassungsausschuß des österr. Reichstages angehörte. P. wurde zu einem Vertreter des Austroslawismus, dessen Fernziele er, der 1848 den Slawenkongreß in Prag geleitet hatte, von Rußland bedroht sah. Nach dem Jahrzehnt des Neoabsolutismus kehrte P. in die Politik zurück, wurde Mitgl. des böhm. Landtages und des Herrenhauses. Soweit er nicht persönlich eingriff, übte er einen starken polit. Einfluß durch seinen Schwiegersohn Rieger aus. Nun stand er aber ganz auf dem Boden des böhm. Staatsrechts. 1866 erschien seine Schrift über die Idee des österr. Staates, den er sich nur föderalist. vorstellen konnte. Mit dem Durchbruch des Dualismus schien ihm auch der Untergang des österr. Staates besiegelt, wobei ihn bloß der Gedanke tröstete, daß die tschech. Nation auch nachher bestehen würde.
W.: Počátkové českého básnictví, obzvláště prosodie (Die Anfänge der tschech. Dichtung, bes. der Prosodie), 1818, Neuaufl., hrsg. von M. Bakoš und R. Havel, in: Slovenská Akad. vied. Ústav slovenskej literatury. Edícia korešpondencia a dokumenty 8, 1961; Würdigung der alten böhm. Geschichtsschreiber, 1830, Neuausg. 1869; J. Dobrovskýs Leben und gelehrtes Wirken, in: Abhh. der Böhm. Ges. der Wiss., F. 4, Bd. 3, 1835; Geschichte von Böhmen, 5 Bde., 1836–67, Nachdruck, 10 Bde., o. J., tschech.: Dějiny národu českého v Čechách a na Moravě, 1848–60, 3. Aufl. 1876; Über Formelbücher zunächst in Bezug auf böhm. Geschichte, 2 Tle., in: Abhh. der Böhm. Ges. der Wiss., F. 5, Bd. 2, 1842, Bd. 5, 1847; Popis království českého (Beschreibung des Kg.Reichs Böhmen), 1848; Österr. Staatsidee, 1866, Nachdruck 1972, tschech.: Idea státu rakouského, 1907; O poměrech a stycích Valdenských k někdejším sektám v Čechách (Über die Verhältnisse und Beziehungen der Waldenser zu den ehemaligen Sekten in Böhmen), in: Časopis Českého muzea, 1868; Die Geschichte des Hussitenthums und Prof. C. Höfler, 1868; Radhost (Smlg. kleinerer Abhh.), 3 Bde., 1871–73; Gedenkbll., 1874; etc. Spisy drobné (Kleine Schriften), 3 Bde., hrsg. von B. Rieger, L. Čech und V. J. Nováček, 1898–1902; Dílo (Werke), 4 Bde., 1941. Hrsg.: Archiv český, 6 Tle., 1840–72; Monumenta conciliorum generalium. Concilium Basiliense, 3 Bde., gem. mit E. Birk und R. Beer, 1857–96; Urkundliche Beitrr. zur Geschichte Böhmens und seiner Nachbarländer im Zeitalter Georgs v. Podiebrad 1450–1471, in: Fontes rerum Austriacarum, Abt. 2, Bd. 20, 1860; Documenta magistri J. Hus vitam, doctrinam, causam . . . illustrantia, 1869; Urkundliche Beitrr. zur Geschichte des Hussitenkrieges vom Jahre 1419, 2 Tle., 1873; etc.
L.: Almanach Wien, 1877; Český časopis historický 4, 1898, S. 1 ff., 211 ff., 287 ff., 17, 1911, S. 1 ff., 152 ff., 18, 1912, S. 275 ff., 24, 1918, S. 165 ff.; HZ 141, 1930, S. 54 ff.; Hist. Jb. 53, 1933, S. 429 ff.; Acta universitatis Palackianae Olomucensis, 1949; Rozpravy Československé Akad. věd 71/2, 1961; Journal of Central European Affairs 23, 1964, S. 412 ff.; Sborník prací filologických fakulty brněnské university, 1967; J. Kalousek, Nástin životopisu F. P. (Entwurf einer Biographie F. P.s), 3. Aufl., in: Palackého Dějin, 1876; Památník F. P. (Gedenkbuch F. P.s), 1898; T. G. Masaryk, P.s Idee des böhm. Volkes, 1899; J. Pekař, F. P., 1912; V. Chaloupecký, F. P., 2 Bde., 1912; Z. Nejedlý, F. P., 1921; J. Werstadt, P. odkaz potomstvu a osvobozenému národu (P.s Vermächtnis an die Nachkommen und das befreite Volk), 1926; J. Fischer, Myšlenka a dílo F. P. (Ideen und Werke F. P.s), 2 Bde., 1926–27; F. Hrejsa, Mladý F. P. (Der junge F. P.), 1927; I. Hamza, F. P. und die Probleme des österr. Staates, phil. Diss. Wien, 1948; M. Jetmarová, F. P., 1961; F. Prinz, F. P. als Historiograph der böhm. Stände, in: Probleme der böhm. Geschichte, 1964, S. 84 ff.; Památník Palackého (Gedenkbuch P.s) 1798–1968, 1968; J. F. Zacek, P. The Historian as Scholar and Nationalist, in: Studies in European History 5, 1970 (mit Bibliographie); J. Werstadt, Politické dějepisectví XIX. století a jeho Čeští představitelé (Die polit. Geschichtsschreibung und ihre tschech. Repräsentanten im 19. Jh.), in: Český časopis historický 26, 1920, S. 1 ff.; R. G. Plaschka, Von P. bis Pekař, in: Wr. Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 1, 1955, S. 6 ff.; Biograph. Wörterbuch zur dt. Geschichte, 2. Aufl., bearb. von K. Bosl, G. Franz und H. H. Hofmann, Bd. 2, 1974; W. Kosch, Biograph. Staatshdb., Bd. 2, 1963; Wurzbach; N. Österr. Biographie, Bd. 11, 1957, S. 108 ff.; Bibliografie české historie (Bibliographie zur tschech. Geschichte), hrsg. von Č. Žibrt, Bd. 2, 1902; F. Kutnar, Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectvi (Überblick über die Geschichte der tschech. und slowak. Historiographie), 1973, s. Reg.; F. Prinz, Mediävist. Probleme im dt.-tschech. Dialog, in: Z. für Ostforschung 25, 1976, S. 248 ff.; K. Kazbunda, České hnutí roku 1848 (Tschech. Bewegung im Jahr 1848), 1929, s. Reg.; J. Pfitzner, Die Geschichtsbetrachtung der Tschechen und Dt. in den Sudentenländern, in: HZ 146, 1932, S. 71 ff.; H. Raupach, Der tschech. Frühnationalismus, 1939, s. Reg.; R. A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde., 1964, s. Reg.; F. Prinz, Probleme der böhm. Geschichte zwischen 1848–1914, in: Bohemia. Jb. des Collegium Carolinum 6, 1965, S. 332 ff.; Hdb. der Geschichte der böhm. Länder, hrsg. von K. Bosl, Bd. 2, 1970, s. Reg.
(W. Goldinger–K. Kučera)
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 7 (Lfg. 34, 1977), S. 294ff.