Pöch, Rudolf (1870–1921), Anthropologe, Ethnograph und Mediziner

Pöch Rudolf, Anthropologe, Ethnograph und Mediziner. Geb. Tarnopol, Galizien (Ternopil, UA), 17. 4. 1870; gest. Innsbruck (Tirol), 4. 3. 1921 (Ehrengrab: Wiener Zentralfriedhof); röm.-kath. Sohn des Direktors der k. k. priv. Galizischen Carl-Ludwig-Bahn Anton Pöch; ab 1919 verheiratet mit Hella (Helene) Pöch-Schürer, geb. Helene Schürer von Waldheim. – Nach der Matura am Piaristengymnasium in Wien 1888 studierte P. zunächst Jus, dann Medizin an der dortigen Universität. 1891 verbrachte er ein Semester bei →Rudolf Wlassak in Zürich, wo er sich der Anti-Alkoholbewegung verschrieb und Kontakt zu den „Rassenhygienikern“ Alfred Ploetz und Agnes Bluhm hatte; 1895 Dr. med. in Wien. Ab 1896 arbeitete P. unter →Edmund von Neusser als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus. 1897 nahm er an einer Expedition der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien zum Studium der Pest in Bombay teil. Entgegen Protesten der Bevölkerung führte das Team Sektionen an verstorbenen Pest-Patienten durch. 1900–01 absolvierte P. in Berlin bei →Felix von Luschan ein Volontariat in der afrikanisch-ozeanischen Abteilung des Museums für Völkerkunde, 1902 folgte eine Ausbildung am Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg. Im Auftrag von Adolph Woermann untersuchte er anschließend, wie die Malaria-Infektionsrate auf der Kolonialhandelsroute entlang der Küste Westafrikas gesenkt werden könnte. 1904–06 unternahm P. eine Reise nach Neu-Guinea und Australien. Er machte geographische Beobachtungen, Film-, Photo- und Tonaufnahmen sowie anthropometrische Messungen und eignete sich zoologische, botanische, ethnographische und anthropologische Sammlungen an, u. a. menschliche Skelette, die P. teils selbst ausgrub, und Weichteile, die ihm lokale Ärzte heimlich besorgten. P. folgte einem „rettungsanthropologischen“ Ansatz. Die Körper und die Kultur der Menschen, denen durch die Kolonisierung die Lebensgrundlage entzogen worden war, sollten akademisch und museal archiviert werden. 1907–09 reiste er im Auftrag der Akademie in das südliche Afrika. Man nahm an, dass die durch Landnahme, Mordkommandos und die Folgen des Genozids an Nama und Herero geschwächte indigene Bevölkerung bald aussterben würde. P. wandte dieselben, zum Teil illegalen, Sammlungsmethoden an wie in Neu-Guinea. U. a. ließ er heimlich und gegen den Willen der Verwandten Leichen exhumieren. 1910 habilitierte sich P. als Privatdozent für Anthropologie an der Universität Wien. Im selben Jahr begann er am Phonogrammarchiv der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu arbeiten; 1913 ao. Professor für Anthropologie und Ethnographie an der neu gegründeten Lehrkanzel. Von 1915 bis Kriegsende untersuchte er Kriegsgefangene in Lagern der Monarchie, im deutschen Kaiserreich und im besetzten Rumänien. Die anthropometrischen Messungen, die der Abgrenzung verschiedener „Rassen“ dienen sollten, basierten wie schon auf P.s Reisen auf Vorgaben von Rudolf Martin, dessen „Lehrbuch der Anthropologie“ (1914) zum Standardwerk wurde. P. fügte der von Martin vorgeschlagenen Typenphotographie das Eindrittel-Profil hinzu; 1915 Dr. phil. bei Martin in München, 1919 o. Professor. In der Lehre konzentrierte P. sich auf die Einteilung von Menschen in „Rassen“ und las zu Entwicklungstheorien, Vererbungslehre und Rassenhygiene. Seine Filme, Photographien und Tonaufnahmen werden bis heute breit rezipiert. Seine Nutzung struktureller und direkter Gewaltkontexte, seine ungenügenden Kenntnisse von Sprache und Lebensalltag der Untersuchten sowie die lückenhaften Informationen zu seinen Sammlungen lassen den heutigen Umgang mit seinem wissenschaftlichen Erbe zu einer ethisch und politisch heiklen Aufgabe werden, in der es gilt, der Verantwortung gegenüber den von ihm Untersuchten und ihren Nachfahren gerecht zu werden. 2009 und 2011 führte Österreich die Überreste von 30 Personen aus der sogenannten P.-Sammlung nach Australien zurück. 2012 wurden die Überreste von Klaas und Trooi Pienaar nach Südafrika überstellt. P.s weitere Sammlungen befinden sich heute im Naturhistorischen Museum, im Weltmuseum, im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, im Filmarchiv Austria sowie in der Anthropologischen Abteilung und am Kultur- und Sozialanthropologischen Institut der Universität (alle Wien). P. war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, der Anthropologischen (ab 1921 Präsident) sowie der Photographischen Gesellschaft in Wien, der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Berlin, der Royal Society in Südafrika, ab 1910 Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaft in Wien und ab 1919 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Weitere W.: s. Oberhummer.
L.: E. Oberhummer, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 51, 1921, S. 95ff. (mit W.); M. Legassick – C. Rassool, Skeletons in the Cupboard, 2000, S. 9ff.; R. P.s Kalahari recordings (1908), ed. D. Schüller, 2003; M. Berner, in: Zeitgeschichte 30, 2003, S. 124ff.; B. Fuchs, „Rasse“, „Volk“, Geschlecht, 2003, S. 206ff., 238ff., 280ff.; M. Teschler-Nicola, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 136/137, 2006/07, S. 75ff., 141, 2011, S. 51ff. (mit Bild); B. Lange, Die Wiener Forschungen an Kriegsgefangenen 1915–18, 2013, s. Reg. (mit Bild); W. Sauer, R. P.s Kalahari-Reise im Spiegel der Akten des namibischen Nationalarchivs, 2013 (online, Zugriff 1. 12. 2020); E. Weiss-Krejci, in: Sammeln, Erforschen, Zurückgeben?, ed. H. Stoecker u. a., 2013, S. 447ff.; S. Schasiepen, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2019, H. 1, S. 15ff.; A. Hoffmann, Kolonialgeschichte hören, 2020 (mit Bild); R. P. – Als Anthropologe im Kriegsgefangenenlager, Österreichische Mediathek (online, Zugriff 22. 1. 2020); UA, Wien; UA, Zürich, CH.
(S. Schasiepen)   
Zuletzt aktualisiert: 20.12.2021  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 10 (20.12.2021)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 8 (Lfg. 37, 1980), S. 138f.
Bd. <==> | |<1  <=−10<=  S. 1 =>+10=>
Bd. <==> | |<1  <=−10<=  S. 1 =>+10=>

Medien
Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof
P.s Denkmal in den Arkaden der Universität Wien
© Albertina
© Albertina