Rieger, František Ladislav Frh. von (1818-1903), Staatsmann

Rieger František Ladislav Frh. von, Staatsmann. * Semil (Semily, Böhmen), 8. 12. 1818; † Prag, 3. 3. 1903. Sohn eines Müllers, Vater des Rechtshistorikers Bohuslav Frh. v. R., Schwiegersohn des Historikers und Politikers F. Palacký (beide s. d.); stud. ab 1837 an der Univ.Prag Jus (1847 Dr. Jur.) und war beim Kriminalgericht beschäftigt. Er verließ jedoch bald den Staatsdienst und widmete sich der Publizistik. 1844 beteiligte er sich an der Gründung der Měšťanská beseda (Bürgerliches Kasino), leitete gem. mit Strobach und Trojan die tschech. Minderheit in der Průmyslová jednota (Gewerbever.) und engagierte sich für die Errichtung des tschech. Nationaltheaters. Im Frühjahr 1848 in den Nationalausschuß in Prag kooptiert, lehnten er und Palacký die Wahlen in das Frankfurter Parlament ab. Unter dem Eindruck großdt. Tendenzen wurde R. – im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Befürwortung der Restitution des alten böhm. Staates – zum Anhänger einer nationalen föderativen Umgestaltung Österr. Er beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Prager Slawenkongreß und beeinflußte maßgeblich dessen austroslaw. Konzeption. R.s zahlreiche Reden auf dem Reichstag in Kremsier (Kroměříž) beleuchten markant den liberalen Standpunkt der tschech. nationalen Politik. Nach der Auflösung des Reichstags stud. er in Paris Nationalökonomie, 1850 war er in London, 1851 kehrte er nach Prag zurück. Durch den Eingriff der Behörden wurde seine Habil. für Volkswirtschaft an der Prager Univ. vereitelt. R.s Memorandum an den K. (1860) war nach jahrelangem erzwungenen Stillschweigen die erste tschech. öff. polit. Kundgebung und festigte R.s führende Stellung in der tschech. Ges. Eine neue Formulierung des Programms der nationalen Partei veröff. er 1861 in den „Národní listy“. 1861 wurde R. Landtagsabg. Die Tschechen nutzten die Verfassungszustände zum Ausbau der Selbstverwaltung und zur intensiven Ver.-Tätigkeit; dem Reichsrat blieben sie ab 1863 fern. Nach Beratungen mit poln. und kroat. Politikern (1866) plante R. die Föderalisierung der Monarchie, um der Gefahr des Dualismus entgegenzutreten. 1868 konzipierte er den böhm. staatsrechtlichen Standpunkt (R.sches Manifest), der auf lange Zeit zur maßgeblichen Linie für die tschech. Politik wurde. Das Manifest lehnte die Kompetenz des Reichsrats für die böhm. Länder ab und proklamierte den Grundsatz, daß sämtliche das Kg.Reich Böhmen betreffenden Verfassungsänderungen lediglich aufgrund eines Abkommens des Kg. mit der polit. böhm. Nation durchgeführt werden könnten. Als die Rücksichtnahme auf die internationale Stellung Österr. 1870 eine Änderung des Regierungskurses erzwang, stellte die Regierung die Verfolgung der tschech. Opposition ein und nahm Kontakte zu den Tschechen auf. Aus den Beratungen R.s, Clam-Martinić’ (s. d.) und anderer tschech. Vertreter mit dem Min. Hohenwart (1871) gingen die Fundamentalartikel hervor, ein Versuch, den böhm. Ländern im Rahmen Zisleithaniens dieselbe Stellung zu sichern, wie Ungarn sie im ganzen Reich hatte. Nach Palackýs Tod (1876) hatte R. große Mühe, die Einheit der tschech. Politik aufrechtzuerhalten. Eine starke Opposition der Jungtschechen gegen die Abhängigkeit der nationalen Partei vom Adel und die wirtschaftlichen Nachteile der passiven Resistenz waren für ihn Anlaß, sich mit Vermittlung Fischhofs (s. d.) an das dtliberale Lager zu wenden, um ein tschech.-dt. Abkommen herbeizuführen. Die Emmersdorfer Beratung von 1878 blieb wegen des Widerstands der dt.böhm. Führer erfolglos. Der Einzug der Tschechen in den Reichsrat wurde deshalb erst 1879 aufgrund der veränderten polit. Konstellation nach der Ernennung der Regierung Taaffe realisiert, als die Tschechen direkt in die neue Regierungsmehrheit der Rechten eintraten. Manche Konzessionen, die die Bedingung zum Eintreten waren, wurden etappenweise erfüllt (Stremayrs Sprachenverordnungen 1880, tschech. Univ. 1882), manche Vereinbarungen kamen jedoch nicht zustande. 1883 kam es zur tschech. Mehrheit im böhm. Landtag. Nach dem Auszug der Dt. aus dem böhm. Landtag 1886, als die tschech. Mehrheit deren Antrag auf die nationale Zweiteilung Böhmens abgelehnt hatte, erkannte R., daß es im Interesse der nationalen Versöhnung wäre, von der ursprünglichen Auffassung der Gleichberechtigung beider Landessprachen in ganz Böhmen abzusehen. Der sog. böhm. Ausgleich von 1890, den R. und andere Alttschechen mit Plener (s. d.) und anderen dt.böhm. Politikern aushandelten, bedeutete die Zweiteilung Böhmens in einen dt. und einen zweisprachigen Tl. und löste in der tschech. Öffentlichkeit einen Sturm des Widerstands aus. Die Reichsratswahlen im März 1891 endeten mit einer vernichtenden Niederlage der alttschech. Partei, die damit prakt, von der polit. Szene verschwand. R. fiel bei den Wahlen in der Prager Neustadt durch und resignierte auf die meisten seiner Funktionen. Er lebte dann meistens auf seinem Gut in Maleč. 1897 Frh. und Herrenhausmitgl. R.s starker Einfluß auf die tschech. Ges. rührte nicht nur von seiner Redegabe und dem persönlichen Charisma, sondern auch von seinem minutiös nuancierten Verständnis für alle Bedürfnisse des nationalen Lebens her.

W.: O statcích a pracích nehmotných a jich významu i postavení v národním hospodářství (Über immaterielle Güter und Leistungen und deren Stellung und Einfluß in der Volkswirtschaft), 1850; Průmysl a postup výroby jeho v postavení svém k blahobytu a svobodě lidu zvláštěpracovného (Die Ind. und die Entwicklung ihrer Produktion in ihrem Einfluß auf das Wohl und die Freiheit des Volkes, bes. der Lohnarbeiter), 1860; Les Slaves d’Autriche et les Magyars, 1861, tschech. 1906; Slovo o národním divadle (Ein Wort über das Nationaltheater), 1875; Řeči Dra F. L. R. (Dr. F. L. R.s Reden), 4 Bde., hrsg. von J. Kalousek, 1883–87; H. Traub, Řeči F. L.R. (F. L. R.s Reden) 1, 1923; Výbor z řeči (Auswahl aus F. L. R.s Reden), hrsg. von H. Traub, 1928; Milostné dopisy F. L. R. a M. Palacké (Liebesbriefe F. L. R.s an M. Palacký), hrsg. von K. Stloukal, 1932; zahlreiche Abhh. in Z. Red. (ab Bd. 3 gem. mit J. Malý): Slovník naučný (Konversationslex), 12 Bde., 1860–90.
L.: J. Heidler, R. na říšské radĕ 1879–85, in: Časopis Matice. moravské 42/43, 1919/20, S. 1 ff.; K. Kazbunda, Dvě Riegrova memoranda, in: Zahraniční politika 4, 1925, S. 844 ff., 954 ff.; ders., Pobyt F. L. Riegra v cianĕ r. 1849/50, ebenda, 8, 1929, S. 749 ff., 913 ff.; Biograph. Lex. Südosteuropas; Masaryk; Otto; Rieger Wurzbach; J. V. Jahn, F. L. R., Neuaufl. 1889; J. Kalousek, O F. L. R., 1903; A. O. Zeithammer, Zur Geschichte der böhm. Ausgleichsversuche (1865–71) 1–2, 1912–13; H. Traub, F. L. R., 1923; J. Heidler, Příspěvky k listáři Dr. F. L. R. 1–2, 1924–26; A. Srb, Politické dějiny národa českého . . . 1–2, Neuaufl. ( = Ottova Naučná Knihovna 10), 1926; K. Kazbunda, PouťČechů do Moskvy 1867 a diplomacie, 1926; Riegrův památník, 1928; M. Navrátil, Almanach československých právníků, 1930; Z. Tobolka, Politické dějiny československého národa od r. 1848 až do dnešní doby 1–3, 1932–36; K. Stloukal, F. L. R. a Průmyslová Jednota v prvních letech absolutismu, in: Sto let Jednoty k povzbuzení průmyslu v Čechách 1833–1933, 1934, S. 241 ff.; V. Vinš, F. L. R., 1948; R. A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie 1–2, 2. Aufl. 1964, s. Reg.; Hdb. der Geschichte der böhm. Länder 3, hrsg. von K. Bosl, 1968, s. Reg.; Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hrsg. von A. Wandruszka und P. Urbanitsch, 3, 1980, s. Reg.; O. Urban, Česká společnost 1848–1918, 1982.
(K. Kučera)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 42, 1985), S. 148ff.
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