Rokitansky, Karl (Carl) Frh. von (1839–1898), Gynäkologe

Rokitansky Karl (Carl) Freiherr von, Gynäkologe. Geb. Wien, 14. 5. 1839; gest. Graz (Steiermark), 19. 6. 1898 (begraben: Wien); röm.-kath. Sohn von →Carl Freiherr von Rokitansky und der Sängerin Maria (Marie) Freifrau von Rokitansky, geb. Weis (1806–1888), Bruder von →Hans Freiherr von Rokitansky, →Victor Freiherr von Rokitansky (s. u. Hans Freiherr von Rokitansky) und →Prokop Freiherr von Rokitansky, Vater des Juristen Karl Freiherr von Rokitansky (1876–1967), Gerichtsvorsteher in Arnfels und Radkersburg sowie Oberlandesgerichtsrat, Landtagsabgeordneter und Landtagspräsident in Klagenfurt, Onkel von →Friedrich Karl Freiherr von Rokitansky; ab 1872 verheiratet mit Gabriela (Jella) Freifrau von Rokitansky, geb. Sterger (geb. 1843; gest. Graz, 1914). – Nach dem Gymnasialbesuch studierte R. ab 1858 Medizin an der Universität Wien; 1864 Dr. med., 1865 Dr. chir. und Mag. obstet. 1866–72 vertiefte er seine Kenntnisse als Assistent an der geburtshilflich-gynäkologischen Klinik von →Karl von Braun-Fernwald. Bereits 1871 setzte sich R. gemeinsam mit elf anderen Medizinern für die Gründung eines Ambulatoriums für Mittellose mit sämtlichen Spezialfächern ein, Anfang 1872 konnte diese Institution als Poliklinik eröffnet werden. R. übernahm die Sektion für Frauenkrankheiten. 1871 habilitierte er sich als Privatdozent an der Universität Wien für Geburtshilfe und Gynäkologie; 1880 ao. Professor. Die damaligen Untersuchungen des Gynäkologen →Karl Mayerhofer zu Semmelweisʼ Forschungen über Puerperalfieber, insbesondere über den Keimgehalt des Lochialsekrets, wurden durch R.s Arbeiten zur mikroskopischen Zusammensetzung der Lochien weiterentwickelt. 1875 übernahm R. als Nachfolger Hermann Beigels neben seiner Tätigkeit an der Poliklinik, aus der er 1877 ausschied, die Direktion des Maria Theresia-Frauen-Hospitals in Wien. Dort setzte er sich für eine Modernisierung der Anstalt ein, führte zahlreiche damals noch riskante Laparotomien erfolgreich durch und wurde durch seine chirurgischen Behandlungsmethoden international bekannt. Carl Theodor Herzog in Bayern, Augenarzt und Bruder von Kaiserin →Elisabeth, besuchte beispielsweise 1881 das Maria Theresia-Frauen-Hospital, um R.s Operationstechniken kennenzulernen. R. bewarb sich auch zweimal als Ordinarius für Gynäkologie in Wien, wobei ihm allerdings →Friedrich Schauta und →Rudolf Chrobak vorgezogen wurden. Nach dem Ende der Renovierungsarbeiten des Maria Theresia-Frauen-Hospitals im Juni 1892 lud →Paul Gautsch Freiherr von Frankenthurn R. ein, ab Herbst dieses Jahres die Universitätsklinik für Geburtshilfe und Gynäkologie in Graz als o. Professor zu übernehmen und zu modernisieren. Gautsch sicherte ihm die hierfür nötigen finanziellen Mittel zu und betonte, dass R.s Tätigkeit in Graz die Voraussetzung für eine Berufung als Ordinarius nach Wien sei, die allerdings nie erfolgte. Daneben fungierte R. als Primararzt der Landesgebäranstalt. In seinen Publikationen befasste er sich mit chirurgischen Techniken bei Operationen von Myomen, Uteruskarzinomen, Uterusprolapsen sowie mit Laparotomien. 1874 sprach er sich in der „Wiener medizinischen Presse“ explizit gegen die Anwendung der Zangengeburt bei Beckenendlage aus, da diese zu einer hohen Rate an Totgeburten führte. In zahlreichen Versuchen bewies er, dass anstelle der Zange der Mauriceausche Handgriff (heute als Veit-Smelliescher Handgriff bekannt) mit Erfolg eingesetzt werden konnte. R.s diesbezügliche Veröffentlichungen wurden allerdings ignoriert und die Zange bis 1896 weiterhin routinemäßig verwendet. Darüber hinaus kann R. als Pionier der Elektrochirurgie in Österreich bezeichnet werden. Indikationen zu der von ihm entwickelten Elektrochirurgie sah er hauptsächlich darin, Myofibrome zu verkleinern und dadurch Operationen zu vermeiden sowie die starke Blutungsneigung bei Myofibromen durch Verschorfung zu vermindern. Von seinen Publikationen sind besonders „Ueber den Gebrauch des Forceps am nachfolgenden Kopfe“ (in: Wiener medizinische Presse 15, 1874) und „Zur Anwendung der Eletricität bei Krankheiten der weiblichen Sexualorgane“ (in: Wiener klinische Wochenschrift 3, 1890) erwähnenswert. Da R. auch Hebammen unterrichtete, erkannte er die Mängel der damaligen Lehrunterlagen und verfasste ein neu strukturiertes und praxisbezogenes „Lehrbuch für Hebammen“ (1895), in dem er v. a. Eingriffe beschrieb, die für Mutter und Kind möglichst hohe Sicherheit gewährleisteten. R., der selbst seit seiner Jugend an einer entzündlichen Krankheit litt, zeichnete sich bei seinen Patienten durch besonderes Verständnis und Empathie aus. Ab 1871 Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien, erhielt er 1889 das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens.

Weitere W. (s. auch Eisenberg; Deimer): Über künstliche Einleitung der Frühgeburt durch den Eihautstich, in: Wiener medizinische Presse 12, 1871; Ueber placenta praevia, in: Österreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde 19, 1873; Exstirpation eines Fibroms der vorderen Bauchwand, in: Wiener medizinische Presse 21, 1880; Zur Totalexstirpation des karzinomatösen Uterus, ebd. 23, 1882; Beobachtungen über Laparotomie, ebd. 25, 1884; Zur Kasuistik der grossen Fibromyome des Collum uteri, in: Internationale klinische Rundschau 1, 1887; Zur operativen Behandlung des Prolapsus uteri et vaginae, ebd.; Bronchektasie, in: Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 41, 1896.
L.: NFP, 21. 6. 1898 (Parte); Eisenberg 2 (mit W.); Lesky, s. Reg.; Pagel; J. Kyri, in: Wiener klinische Rundschau 12, 1898, S. 423; R. Chrobak, in: WKW 11, 1898, S. 642; WMW 48, 1898, Sp. 1290; I. Fischer, Geschichte der Geburtshilfe in Wien, 1909, s. Reg.; B. Brandstetter, Burgen und Schlösser …, Chronik einer Großfamilie, 1988, S. 135ff.; E. Deimer, Chronik der Allgemeinen Poliklinik in Wien, 1989, s. Reg. (mit Bild und tw. W.); K. H. Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, 2007, s. Reg.; Familienarchiv Rokitansky, UA, beide Wien; Pfarre Graz-Dom, UA, beide Graz, Steiermark.
(U. Rokitansky-Tilscher)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 43, 1986), S. 222f.
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