Saar, Ferdinand Frh. von (1833-1906), Schriftsteller

Saar Ferdinand Frh. von, Schriftsteller. * Wien, 30. 9. 1833; † Wien, 24. 7. 1906 (Selbstmord). Entstammte einer Beamtenfamilie, Neffe des Malers Karl v. S. (s. d.), Cousin 2. Grades des Folgenden; wuchs – nach dem frühen Tod des Vaters – in bescheidenen Verhältnissen auf. 1843–48 besuchte er das Schottengymn. in Wien, 1849 trat er als Kadett in das IR 16 ein, 1854 Lt., 1860 quittierte er den Dienst. Die folgenden Jahre als freier Schriftsteller waren Notjahre, in denen Schreibblockaden auftraten und Schulden sich anhäuften. S. verweigerte sich jedoch in dieser Zeit jedem literar.-journalist. Broterwerb, bis vermögende Gönnerinnen Anfang der 70er Jahre seine dringendsten Existenzprobleme lösten. Dem Mitgl. des Salons Wertheimstein in Döbling erschlossen sich Verbindungen zu wohlhabenden und kunstsinnigen liberalen Häusern; das Dauerwohnrecht auf Schloß Blansko in Mähren, das ihm die Familie Salm-Reifferscheidt einräumte, ermöglichte es ihm fallweise, sich den gesellschaftlichen Verpflichtungen in Wien zu entziehen. Eine 1881 geschlossene Ehe endete 1884 mit dem Selbstmord seiner Frau. In der Folge mehrten sich Phasen der Melancholie und gesundheitlicher Anfälligkeit. In den 90er Jahren wuchs seine Anerkennung, auch unter den jüngeren Schriftstellern. Einem Krebsleiden machte er 1906 durch Selbstmord ein Ende. S.s ursprüngliches dichter. Lebensprogramm verwirklicht sich nicht, er scheitert als Dichter des großen Dramas, der hist. Tragödie („Kaiser Heinrich IV.“, 2 Tle., 1865–67, „Die beiden de Witt“, 1875, etc.): einerseits macht S. keine Konzessionen an Sensationalismus, Aktionsreichtum und Ausstattung, anderseits behindert seine Psychologisierung großer Gestalten die dramat. wirksame Präsentation der von ihnen getragenen geschichtlichen Konstellationen. In seinen Ged. (erstmals ges. 1882) wiederum wird der Einfluß älterer Vorbilder, wie Lenau (s. Niembsch von Strehlenau), spürbar, jedoch ist S.s Blick für Themen, die, vom traditionellen Fundus der Lyrik her gesehen, neu und zeitproblemat. sind, bemerkenswert: „Drahtklänge“, „Arbeitergruß“, „Die Post-Elevin“, „Proles“, „Gesang der Armen im Winter“, „Das Judenweib“ etc. Haben auch die „Wiener Elegien“ (1893), in denen das veränderte Wien gegen die Erinnerung an das ältere gestellt wird, zu S.s lokalem Ruhm entscheidend beigetragen, ist doch der Erzähler S. höher einzuschätzen alş der Lyriker. Als Vertreter der Gattung Novelle läßt er sich am ehesten einer Variante des europ. Realismus zurechnen, bei der immer wieder Turgenjiev als wichtiger Beeinflusser genannt wurde, während es schwierig ist, S.s literarhist. Standort innerhalb der dt.sprachigen Literatur der Zeit adäquat zu bestimmen. S. hat zwar den Modus der Wirklichkeitsauffassung und die stilist. Ebene eines „Ideal-Realismus“ nie ganz verlassen, er hat, auch in seinen späten Novellen, sich naturalist. Schreibweisen nie ganz verschrieben – in beidem mit M. v. Ebner-Eschenbach (s. d.) einig –, doch paßt er in keine der in der 2. Hälfte des 19. Jh.geläufigen Epochen- und Stilrichtungsbegriffe. S.sah sich zu Recht als Übergang zu den Vertretern der österr. Moderne (z. B. „Schloß Kostenitz“, 1892), seine Intention, literar. Chronist seiner Zeit zu sein, ist in den „Novellen aus Österreich“ verwirklicht, die ein Bild der franzisko-josephin. Epoche mit Menschen aus nahezu allen Bevölkerungsschichten widerspiegeln. Mit bes. Einfühlungsvermögen schildert er Frauengestalten, mitunter nicht frei von zeitgenöss. Betrachtungstypik. Die vor Schnitzler eindrucksvollste Schilderung des jüd. Assimilationsprozesses („Seligmann Hirsch“, 1889) stammt aus S.s Feder. Wie andere Schriftsteller der Epoche steht auch er im Dilemma des Liberalismus als einer mehrfacettigen Geistes- und Lebenshaltung. Er ist ein Liberaler, wenn er Kunst und Bildung als Moment persönlicher Entfaltung betrachtet, wenn er „Freisinnige“ gegen Reaktionäre stellt. Aber er sieht auch die ökonom. Seite des Liberalismus, der mit der Parole des „laissez-faire“ die alte Welt verändert („Vae victis“, 1883), traditionelle Sozialformen auflöst, den Charakter von Geselligkeit verwandelt („Geschichte eines Wiener Kindes“, 1892) und die soziale Frage in die Welt setzt, für die S. die patriarchal.-bevormundende Lösung vorsieht („Die Steinklopfer“, 1874). S. ging von der Gewißheit aus, daß der gesellschaftliche Wandel und die polit. Dynamik der Epoche das Ende der Österr.-ung. Monarchie bewirken werden – das zeigt sich bis in den Stil hinein. Er schilderte das Alte eleg., ohne das neue Entwicklungsträchtige schärfer herauszustellen. Es dominiert der Stilder Andeutung, in Bildern des Herbstlichen, im Wechsel von Helligkeit und Dämmerung, in der Vermeidung des Lauten. Gesellschaftskritik bleibt gedämpft, ist aber im resignativen Grundton immer hörbar.

W.: F. v. S.s sämtliche Werke, 12 Bde., hrsg. von J. Minor, (1908); Fürstin Marie zu Hohenlohe und F. v. S. Ein Briefwechsel, hrsg. von A.Bettelheim, 1910; Briefwechsel zwischen F. v. S. und M. v. Ebner-Eschenbach, hrsg. von H. Kindermann, 1957; Gesamtausg. des erzähler. Werkes, 3 Bde.,1959; Auswahl aus dem lyr. Werk, 1962; Krit. Texte und Deutungen, hrsg. von K. K. Pohlheim, 1ff., 1980ff. (jeweils mit Literaturverzeichnis); Ginevra und andere Novellen, hrsg. und mit Nachwort von K. Rossbacher ( = Ullstein-Buch 30149), 1983; Sündenfall und andere Erz., hrsg. und mit Nachwort von K. K. Pohlheim, 1983; Briefwechsel mit A. Altmann, hrsg. von J. Charue ( = F. v. S., Krit. Texte und Deutungen, Erg.Bd. 1), 1984; etc. Nachlaß, Wr. Stadt- und Landesbibl., Wien.
L.: F. Aspetsberger, Die Typisierung im Erzählen F. v. S.s, in: Z. für dt. Philol. 87, 1968, S. 246 ff.; Nagl-Zeidler-Castle 3–4, s. Reg.; A. Bettelheim. F. v. S.s Leben und Schaffen, in: F. v. S.s sämtliche Werke, hrsg. von J. Minor, 1, (1908), S. 7 ff.; H. Kretzschmar, F. v. S. Eine Zusammenstellung der seit seinem Tode erschienenen Ausg. seiner Schriften und der Literatur über ihn und sein Werk ( = Bibliograph. He. 4), 1965; C. Magris, Der habsburg. Mythos in der österr. Literatur, (1966), s. Reg.; F. K. R. v. Stokkert, Zur Anatomie des Realismus: F. v. S.s Entwicklung als Novellendichter ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik 18), 1970; C. E. Schorske, Wien. Geist und Ges. im Fin de Siećle, (1982), s. Reg.; F. v. S. Ein Wegbereiter der literar. Moderne, hrsg. von K. K. Pohlheim, 1985.
(K. Rossbacher)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 44, 1987), S. 358f.
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