Sauer August, Germanist. * Wr. Neustadt (NÖ), 12. 10. 1855; † Prag, 17. 9. 1926. Sohn eines Kaufmannes und späteren Privatbeamten, Schwiegersohn des klass. Philologen Rzach (s. d.), mit dessen Tochter, der Schriftstellerin Hedda, er ab 1892 verheiratet war; am Wr. Schottengymn. Schüler Maretas (s. d.), der ihn für die dt.sprachige Literatur Altösterr. begeisterte. Stud. 1873–77 Germanistik an der Univ. Wien bei Heinzel (s. d.) und Tomaschek sowie Geschichte bei O. Lorenz (s. d.) und Anglistik bei Zupitza. 1877 Dr. phil. 1877/78 Gasthörer bei Scherer in Berlin, den er seither als method. Mentor betrachtete. 1879 habil. er sich in Wien für dt. Sprache und Literatur, ab Herbst war er Supplent des germanist. Extraordinariats in Lemberg (L’viv), wo mehrere Editionen zur Literatur der dt. Aufklärung, des Sturms und Drangs und des österr. Biedermeiers (Raimund, s. d.) entstanden und die von Mareta angeregte Textreihe „Wiener Neudrucke“ (11 Bde., 1883–86) begründet wurde. 1883 als ao. Prof. nach Graz berufen, gründete S. u. a. die „Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur und des geistigen Lebens in Österreich“, gem. mit Minor und R. M. Werner, und edierte theatergeschichtliches Quellenmaterial. Seine entscheidende Bedeutung als Editor, Literarhistoriker und Kulturpolitiker erlangte S. jedoch erst während seiner Tätigkeit an der Dt. Univ. Prag (ab 1886 ao., ab 1892 o. Prof., 1907/08 Rektor). Von den Scherers Schule verpflichteten editor. Großunternehmen sind neben der Neuausg. von „Grillparzers Sämmtlichen Werken“ (4. Aufl., 1887, 5. Aufl. 1892 f.) bes. die (sog. „Prager“) hist.krit. Ausg. Stifters (ab 1904) und die ab 1909 gem. mit Backmann edierte hist.-krit. Gesamtausg. der Werke Grillparzers (s. d.), die sog. „Wiener Ausgabe“ (42 Bde., in 3 Abt.), zu erwähnen, die, erst 1948 vollendet, bis heute als ein Paradigma positivist. Editionstechnik gilt und an die sich auch mehrere selbständige Teileditionen anschlossen. S.s literarhist. Arbeiten sind von seinen kulturpolit. Intentionen geprägt, die das ideelle Erbe des Habsburgerreiches im aktuellen ethn. Konflikt zwischen Dt. und Tschechen zu bewahren suchten, ohne damit eine einseitige dt.nationale Ideol. zu propagieren. Diesem Ziel dienten die Gründung bzw. Mithrsg. von Buchreihen und Z., wie der „Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen“ (1894 ff.), der „Bibliothek Deutscher Schriftsteller aus Böhmen“ (1894 ff., darin die Stifterausg.), der kulturpolit. Ms. „Deutsche Arbeit“ (ab 1901) und der „Prager Deutschen Studien“ (1905 ff.). In der 1894 gegründeten und bis zu seinem Tod persönlich geleiteten Z. „Euphorien“ schließlich vereinte S. mehrere germanist. Forschungsdisziplinen in einem einzigen Publ.Forum Auch als akadem. Lehrer verband S. die positivist. Fachausbildung mit nationaleth. Aspekten, was von seinen bekanntesten Schülern, Nadler, Stefansky, Enzinger, Kosch, Körner (s. d.) und Hauffen, in verschiedenem Maß weiterentwikkelt wurde. Nachhaltige Wirkung erzielte S. – ab 1903 auch korr. Mitgl. der Akad. der Wiss. in Wien – mit seiner Prager Rektoratsrede „Literaturgeschichte und Volkskunde“ (1907). Gestützt auf das Geschichtsbild K. Lamprechts proklamierte er – in bewußter Antithese zum elitären Literaturverständnis der George-Schule – die Erforschung der gesamten mündlichen und schriftlichen Überlieferung der dt. Nationalliteratur vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund als essentielle Aufgabe der Literarhistoriker. Dies setze die empir. Ermittlung der Zusammenhänge zwischen Literatur und Volkstum, zwischen hist. Schaffensgesetzen und den die einzelnen Dichter prägenden Stammes- und Landschaftsmerkmalen voraus. Daraus ergäben sich exakte Beschreibungskriterien des „Nationalgeistes“, die in der „Nationalliteratur“ transparent würden. Es ist S.s Verdienst, die kulturgeschichtliche Eigenständigkeit der österr. Literatur empir, manifestiert und damit für spätere Forschungsschwerpunkte aufbereitet zu haben.