Schnitzler Arthur, Schriftsteller und Arzt. Geb. Wien, 15. 5. 1862; gest. ebenda, 21. 10. 1931. Enkel des Arztes und med. Fachschriftstellers Philipp Markbreiter, großmütterlicherseits mit der Familie Schey v. Koromla verwandt, Sohn von Johann, Bruder von Julius S., Schwager von M. Hajek (alle s. d.); ab 1903 mit Olga S., geb. Gussmann (geb. Wien, 17. 1. 1882; gest. Lugano, Kt. Tessin, Schweiz, 13. 1. 1970), verehel., Vater des Schauspielers und Regisseurs Heinrich S. (geb. Hinterbrühl, NÖ, 9. 8. 1902; gest. Wien, 14. 7. 1982); mos. Stud. nach Besuch des Wr. Akadem. Gymn. 1879–84 auf Wunsch des Vaters an der Univ. Wien Med., war 1882–83 als Einjährig-Freiwilliger am Garnisonsspital Wien (sein Reserveoff. Charakter wurde ihm 1901 wegen Schmähung der Armee, die man aus seiner Erz. „Leutnant Gustl“ herauszulesen glaubte, aberkannt), 1885 Dr. med. und Assistenzarzt, ab 1886 Sekundararzt am Wr. Allg. Krankenhaus (bei Meynert und I. Neumann v. Heilwart, beide s. d.). 1887–94 war er Red. der von seinem Vater gegründeten „Internationalen Klinischen Rundschau“, ab 1888 dessen Ass. an der Wr. Allg. Poliklinik. Waren die ersten Jahre seiner berufl. Tätigkeit noch durch die Polarität von Arztberuf und künstler. Ambitionen geprägt, so löste er diesen Konflikt nach dem Tod des Vaters, 1893: S. gab seine Stellung an der Klinik auf, führte zwar eine Privatpraxis, wandte sich aber vorrangig seiner (zunächst auch noch fach-)schriftsteller. Tätigkeit zu. Die wiss. geschulte Sichtweise des Arztes beeinflußte jedoch auch weiterhin sein literar. Schaffen, häufig wird die Figur des Arztes zum Protagonisten (bes. in seinem Ärztedrama „Professor Bernhardi“, 1912, das in Wien allerdings bis 1918 von der Zensur verboten blieb). Insbes. findet S.s Interesse für psych. Erkrankungen, für das Un- und Unterbewußte und für psychotherapeut. Methoden, wie Hypnose und Suggestion, auch in seinen Dichtungen Niederschlag, sodaß seine Werke – obwohl er sich in gelegentl. Aufzeichnungen von der Psychoanalyse zu distanzieren versuchte – von Freud (s. d.) und dessen Schülern oft als Belege für psychoanalyt. Theorien herangezogen wurden. S.s Renaissancedrama „Der Schleier der Beatrice“, 1900 uraufgef., gilt als literar. Vorwegnahme von Freuds „Traumdeutung“. Abgesehen von ausgedehnten Reisen innerhalb Europas, lebte S. in Wien, dessen gesellschaftl. und kulturelles Ambiente sein Schaffen entscheidend prägte. Angeregt von der französ. „Moderne“, publ. er ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre, neben Ged. und Aphorismen, v. a. Skizzen und Szenen (so entstanden ab 1888 die Einakter des „Anatol“-Zyklus), ab 1890 gehörte er gem. mit Paul Goldmann, Beer-Hofmann, Salten, Hofmann v. Hofmannsthal (alle s. d.) einem literar. Kreis an, den Bahr (s. d.) als „Jung Wien“ bzw. „Wiener Moderne“ propagierte. Nach dem Mißerfolg von S.s erstem abendfüllenden, der Frauenemanzipation verpflichteten Schauspiel, „Das Märchen“ (1893 am Dt. Volkstheater in Wien), gelang ihm mit „Liebelei“ der Durchbruach als Dramatiker, sowohl in Wien am Hofburgtheater 1895 als auch im darauffolgenden Jahr in Berlin am Dt. Theater, dessen Dir. Otto Brahm das dramat. Werk S.s intensiv förderte, womit Berlin als Urauff.Stadt – zugleich auch als Verlagsort (S. Fischer) – für den Dichter vorrangig blieb. Es folgten zunächst noch weitere sozialkrit. Dramen („Freiwild“, 1896, „Das Vermächtnis“, 1898) sowie mit den Einaktern „Der grüne Kakadu“, „Die Gefährtin“ und „Paracelsus“, 1899, z. Tl. historisierende Stücke mit desillusionierender, psycholog. Thematik. Die reiche dramat. Produktion des nächsten Jahrzehnts konsolidierte S.s Ruf als führender Dramatiker auf den dt.sprachigen Bühnen: Nach unterschiedl. Erfolgen seiner Stücke (von denen einige, wie der Einakterzyklus „Lebendige Stunden“, 1902, die Komödie „Zwischenspiel“, 1905, oder das 1910 am Burgtheater mit großem Erfolg aufgef. Drama „Der junge Medardus“, auch mit Preisen ausgez. wurden) stellte die gleichzeitige Urauff. der Tragikomödie „Das weite Land“ an sieben verschiedenen Theatern in Deutschland sowie in Prag und Wien 1911 einen ersten Höhepunkt der theatral. Wirksamkeit seines Werkes dar. S.s starke Bühnenpräsenz – so war er vor 1914 mit mehr als 200 Auff. am Burgtheater der meistgespielte Autor – erlitt jedoch nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er zu den wenigen österr. Intellektuellen gehört hatte, die sich von der allg. Kriegsbegeisterung fernhielten, und dem darauffolgenden polit. und gesellschaftl. Umbruch einen starken Rückgang: Obwohl er in seinem dramat. Schaffen nicht nachließ („Komödie der Worte“, 1915, die Journalistenkomödie „Fink und Fliederbusch“, 1917, „Die Schwestern oder Casanova in Spa“, 1920, „Komödie der Verführung“, 1924, „Im Spiel der Sommerlüfte“, 1929, und das Versdrama „Der Gang zum Weiher“, 1926, erst 1931 aufgef.), ging das öff. Interesse an S. -Auff. zurück. Nur die Vorfälle um die Auff. des 1896/97 entstandenen Dialogzyklus „Reigen“ (der Prozeß wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ in Berlin, 1921, sowie die stark antisemit, bestimmten Ausschreitungen und Proteste v. a. in Wien im selben Jahr) rückten seine Person kurzzeitig in den Mittelpunkt öff. Interesses und bewogen ihn dazu, die Auff.Erlaubnis wieder zurückzuziehen. S. konzentrierte sich nun verstärkt auf das Medium Film – mehrere seiner Dramen und Erz. wurden, z. Tl. nach seinem eigenen Drehbuch, ab 1914 verfilmt – und die Erzählprosa. Bereits 1908 war ihm, dem die Kritik die große Erzählform ursprüngl. nicht zugetraut hatte, mit dem Künstler- und Ges.Roman „Der Weg ins Freie“, in dem u. a. auch das Problem des assimilierten Judentums thematisiert wird, ein beachtenswerter Erfolg gelungen; nun schuf er – neben seinem zweiten Roman, „Therese. Chronik eines Frauenlebens“, 1928 – längere Erz., in denen er Einzelschicksale und Situationen der Jh.Wende oder weiter zurückliegender Epochen nicht mehr typisierend und satir. vereinfachend wie in der frühen Prosa, sondern in psychologisierender Eindringlichkeit und durchaus mit dem Scharfblick der Kriegs- und Nachkriegszeit zeichnete (etwa „Doktor Gräsler, Badearzt“, 1917, „Casanovas Heimfahrt“, 1918, „Die Frau des Richters“, 1925, „Traumnovelle“, 1926, „Spiel im Morgengrauen“, 1926). In „Fräulein Else“, 1924, griff er nochmals auf die Form des „inneren Monologs“ zurück, den er mit „Leutnant Gustl“ (1900 bzw. 1901) in die dt.sprachige Literatur eingeführt hatte. S.s letztes Lebensjahrzehnt war von zunehmender psych. (bes. nach seiner Scheidung 1921 und dem Selbstmord der Tochter 1928) und phys. (Gehörleiden) bedingter Isolation geprägt, die auch durch öff. Ehrungen (bes. zum 60. Geburtstag; erster Präs. des österr. PEN-Clubs, 1923; Burgtheaterring, 1926 usw.) nicht kompensiert werden konnte. Nach seinem Tod wurde die Wirkung S.s, die weit über Europa hinausging, durch die polit. Ereignisse der 30er Jahre und die Verbrennung seiner Werke durch die Nationalsozialisten gewaltsam unterbrochen; erst seit den 60er Jahren wächst die Wertschätzung für seine krit. Beobachtungskunst, wird S. zunehmend vom Klischeebild des „Dichters der versunkenen Welt“, des Frivol-Erot. befreit und seine zutiefst eth. Grundhaltung gesehen. Diese Neueinordnung wird seit 1981 durch die Herausgabe seines Tagebuchs (1879–1931) unterstützt, eine zehnbändige Chronik der „Beziehungen und Einsamkeiten“, die er für sein Hauptwerk ansah.