Schönherr, Karl (1867-1943), Schriftsteller und Arzt

Schönherr Karl, Schriftsteller und Arzt. Geb. Axams (Tirol), 24. 2. 1867; gest. Wien, 15. 3. 1943. Sohn eines Dorfschullehrers; ab 1922 mit Malvine Chiavacci, der Witwe seines Freundes Vinzenz Chiavacci (s. d.), verehel. S., der bereits zehnjährig seinen Vater verlor, verbrachte seine Jugend in Axams und Schlanders, besuchte die Gymn. in Brixen (Bressanone/Brixen), Bozen (Bolzano/Bozen) und Hall i. Tirol und stud. ab 1886 an der Univ. Innsbruck Germanistik und klass. Philol., ab 1887 Med. In diese Zeit fallen S.s Bekanntschaft mit Adolf Pichler (s. Pichler v. Rautenkar) sowie – 1889/90 – erste literar. Versuche vermutl. im Kontakt mit R. H. Greinz (s. d.). 1891 setzte S. sein Stud. an der Univ. Wien fort, wo er 1896 zum Dr. med. prom. wurde. In der Folge war er als Aushilfsarzt im Krankenhaus in St. Pölten tätig, eröffnete dann eine Praxis in Wien, war jedoch im ärztl. Beruf weder zufrieden noch erfolgreich, sodaß er ihn 1905 aufgab und von da an als freier Schriftsteller abwechselnd in Wien und Telfs (bis 1924) lebte, wenngleich ihn die Arztthematik in seinen Stücken weiterhin begleitete. 1895 hatte S., dessen früher Förderer P. Rosegger (s. d.) war, sein erstes Buch mit den Mundartged. „Innthaler Schnalzer“ veröff., es folgten der Prosabd. „Allerhand Kreuzköpf’“ und die „Tiroler Marterln für abg’stürzte Bergkraxler“. Obwohl er auch später noch Prosatexte veröff., galt S.s Hauptinteresse in der Folge dem Drama. Die Urauff. des Volksschauspiels „Der Judas von Tirol“ am Theater a. d. Wien (1897) brachte noch nicht den erwünschten Erfolg, dieser stellte sich erst 1900 mit der Auff. des naturalist. Dramas „Die Bildschnitzer“ am Dt. Volkstheater in Wien ein. S.s nachhaltigster Erfolg war die – 1907 in Agram uraufgef. – Komödie „Erde“ mit Kainz (s. d.) als alten Grutz am Wr. Hofburgtheater (1908), dessen Dir. Schlenther (s. d.) S. außerordentl. schätzte. 1910 erfolgte S.s erste persönl. Begegnung mit den Mitgl. der Tiroler Exl-Bühne, die sich in der Folge um die Verbreitung seiner Stücke (wiederholt in der Regie des Dichters) große Verdienste erwarb. Das hist. Schauspiel „Glaube und Heimat“, das die Austreibung der Protestanten aus dem Zillertal zum Gegenstand hatte, wurde 1910 zum triumphalen Erfolg auf der Bühne des Volkstheaters – u. a. erhielt S. 1911 für dieses Stück den Grillparzerpreis zuerkannt –, führte allerdings zu einem Plagiatstreit mit Enrica v. Handel-Mazzetti, der in erster Linie als Protest kath. Literaten gegen S.s freisinnige, nationalliberale Haltung gesehen werden muß. Noch 1918 etwa wurde durch den Münchner Bischof Faulhaber gegen die dortige Auff. des Dreipersonenstücks „Der Weibsteufel“ (1915 uraufgef.; als Stummfilm unter dem Titel „The She Devil“) Einspruch erhoben, was zur Absetzung des Stücks auf Veranlassung des bayr. Kg. führte. Ibsens und Strindbergs Ehedramen hatten für dieses Werk Pate gestanden, aber auch Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“. Der Unterschied zu seinen frühen naturalist. Dramen ist deutl. erkennbar, da S. nun Typen auf die Bühne stellt: Den schwachen, kränkl. „Mann“, das starke, verführer. „Weib“ und den jungen, labilen „Grenzjäger“. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verstärken sich die expressionist. Züge in S.s Dramen, v. a. in dem Zweipersonenstück „Es“ (1922 uraufgef.), in „Die Hungerblockade“ (1925) bzw. deren Umarbeitung „Der Armendoktor“ (1926 uraufgef.) und in „Herr Doktor, haben Sie zu essen?“ (1930 uraufgef.). Sein letztes Drama, „Die Fahne weht“ (1937 in Graz uraufgef.), das den Kampf der Tiroler Bauern gegen die französ. Besatzung zum Gegenstand hat, wurde im März 1938 unter der Dion. von Mirko Jelusich am Wr. Burgtheater als erste Premiere nach dem „Anschluß“ gegeben; das Stück, dem auch eine oppositionelle Tendenz gegen die neuen Machthaber hätte unterstellt werden können, wurde von der Kritik als Bejahung der gewandelten Situation aufgefaßt und als ein „nationales Fest“ gefeiert. In seinen letzten Lebensjahren wurde es um S., der zahlreiche Ehrungen erfahren hatte, still; obwohl er durch Äußerungen mehrfach für die Politik Hitlers votiert hatte, exponierte er sich in seinem literar. Werk nie im Sinne des Nationalsozialismus, dessen Kulturpolitik freil. die ihm daran genehmen Elemente zu nutzen versuchte (zu S.s 75. Geburtstag gratulierte Goebbels). S. hat mit seinem dramat. Werk die Tradition des österr. Volksstücks in der entfernten Nachfolge Anzengrubers (s. d.) eindrucksvoll fortgesetzt, indem er sich dafür – wie v. a. in „Karnerleut“ (1904 uraufgef.) und „Erde“ – geschickt naturalist. Dramentechnik bediente und so zum bedeutendsten Repräsentanten dieser Richtung in Österr. wurde. Zugleich feiert dieses Stück auch den naturhaften starken Menschen: Der alte Bauer Grutz, dessen Ende nach einer schweren Verletzung bevorzustehen scheint, überlebt den Winter und zertrümmert eigenhändig den Sarg, der für ihn schon bereit steht, und symbolisiert somit die ewige Regenerationsfähigkeit des fest auf der Scholle stehenden Bauern alten Schlages, der sich positiv von der schwachen jungen Generation abhebt, die durch seinen Sohn verkörpert wird. Die frühen Dramen S.s zeichnen sich durch die präzise und effektvolle Behandlung der Tiroler Mundart und die genaue Darstellung sozialer Machtstrukturen im ländl. Bereich aus. Zu Lebzeiten gehörte S.s Werk zum festen Bestandteil der dt.sprachigen Bühnen; der Autor konnte sich der Anerkennung mancher bedeutender Kollegen, wie etwa Schnitzlers (s. d.), erfreuen. Während allerdings noch 1961 der Wr. Literaturkritiker Hans Weigel meinte, daß „Frau Suitner“ (1917 uraufgef.) zum „klassischen Repertoire unseres Theaters gehören“ müßte, nimmt die Bedeutung S.s für das Theater und auf dem Buchmarkt seit 1945 trotz respektabler Bemühungen zusehends ab.

W.: Ges. Werke, 4 Bde., (1924); Ges. Werke, 2 Bde., hrsg. von V. Chiavacci jun., (1948), Lizenzausg. 1952; Gesamtausg., 3 Bde., (1967–74) (mit Bildern, Werksund Literaturverzeichnis); usw.
L.: Alth, Burgtheater, Reg.Bd., S. 30; Hall–Renner; Nagl–Zeidler–Castle 4, s. Reg. (mit Bild); H. Cysarz, in: N. Österr. Biogr. 14, (1960), S. 137ff. (mit Bild); M. Lederer, K. S., der Dramatiker (= Lehrerbücherei 51), (1924) (mit Bild); A. Bettelheim, K. S. Leben und Schaffen, 1928 (mit Bildern); T. Schuh, K. S. – Sprache und Sprachstil, phil. Diss. Innsbruck, 1966; K. Paulin, K. S. und seine Dichtungen, 1950 (mit Bildern); H.-J. Weitschacher, Die Bedeutung der Gebärde in S.s Dramenkunst, phil. Diss. Wien, 1968; V. K. Chiavacci, in: K. S., Gesamtausg. 2, (1969), S. 7ff.; K. Gillmann, Das dramat. Werk K. S.s und seine Rezeption in Wien, phil. Diss. Wien, 1974; E. Melichar-Lublasser, Phänomene der österr. Geschichte im Werk K. S.s, phil. Diss. Innsbruck, 1979; W. Bortenschlager, in: ders., Tiroler Drama und Dramatiker im 20. Jh. (= Schrifttum der Gegenwart 17), (1982), S. 20ff.; A. Schnitzler, Tagebuch 1893–1902ff., 1989ff.; Literatur Lex., hrsg. von W. Killy, 10, 1991; K. Fliedl, in: Metropole und Provinz in der österr. Literatur des 19. und 20. Jh., hrsg. von A. Dusini und K. Wagner (= Zirkular. Sondern. 41), 1994, S. 115ff.
(W. Schmidt-Dengler)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 11 (Lfg. 51, 1995), S. 85f.
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