Schraffl, Joseph (1855-1922), Politiker

Schraffl Joseph, Politiker. Geb. Sillian (Tirol), 13. 6. 1855; gest. Innsbruck (Tirol), 11. 1. 1922. Sohn eines Gastwirts und Kaufmanns. Vom Vater zur Übernahme des Familienbesitzes bestimmt, besuchte S. zwar nur die Volksschule in Sillian, Rofreit/Roveredo (Rovereto) und Trient (Trento) und arbeitete danach drei Jahre als Volontär im Innsbrucker Bankhaus Riedl, bildete sich jedoch durch Selbststud. weiter. Nach dem Tod seiner Eltern übernahm er 1874 die väterl. Unternehmungen. 1884 wurde S. Bgm. von Sillian (bis 1908), gab 1887 Gasthaus und Geschäft auf und führte von da an eine Landwirtschaft. 1897 in den Tiroler Landtag gewählt, war er 1898 Mitbegründer der Christlichsozialen Partei Tirols und stieg in der Folge zu einem der bedeutendsten Tiroler Politiker vor dem Ersten Weltkrieg auf. Nachdem er sich bei der Wahl gegen seinen kath.-konservativen Konkurrenten, den ehemaligen Minister Dipauli (s. d.), durchsetzen konnte, hatte S. ab 1901 einen Sitz im Abg.Haus des Reichsrats (bis 1918) inne. Sein bes. Einsatz galt dem schwer um seine Existenz ringenden Tiroler Bauernstand. War S. zunächst 1902 an der Gründung der „Tiroler Bauern-Zeitung“ beteiligt, so rief er zwei Jahre später in Sterzing (Vipiteno/Sterzing) den Tiroler Bauernbund trotz des Widerstands der kath.-konservativen Landtagsmehrheit und des hohen Klerus ins Leben und wurde dessen erster Obmann. Weiters konnte er 1906 die Errichtung der Tiroler Bauernsparkasse durchsetzen, dieser einige Jahre danach einen Kreditver. angliedern und 1918 die Genehmigung für die Gründung der Agrarbank für die Alpenländer erhalten. Auf Bundesebene wurde S. bei der Bildung der christlichsozialen Gesamtpartei 1907 zu einem der Stellv. Luegers (s. d.) gewählt. Nach einem jahrelangen beispiellos harten „Bruderkampf“ führte S. gem. mit Schoepfer und Schorn (beide s. d.) die Christlichsozialen bei den Landtagswahlen 1908 zu einem Erdrutschsieg gegen die kath.-konservative Mehrheit und machte seine Partei damit zur bestimmenden polit. Kraft in Tirol. In der Folge erreichte er 1909 bei den Tiroler Bischöfen die Aufhebung des Betätigungsverbotes für Priester im Tiroler Bauernbund. 1908–14 Landesausschuß, gehörte die Erweiterung des Tiroler Landtagswahlrechts durch die Schaffung einer allg. Kurie (1914) zu seinen größten polit. Erfolgen. Als Präs. des Landeskulturrats hatte er 1914–18 die dominierende Position im Tiroler Agrarwesen inne. Durch seinen Einsatz für das Tiroler Landesverteidigungsgesetz von 1913 erlangte S. die Wertschätzung des K. und erhielt den Franz-Joseph-Orden; da er während des Ersten Weltkriegs jedoch auch unpopuläre Maßnahmen, wie das Stellungsprogramm der Reichsregierung gegenüber der bäuerl. Bevölkerung, mittragen mußte, verlor er an öff. Beliebtheit. Schon seit 1914 LHptm.Stellv., wurde er 1917 LHptm. 1918 schlossen sich Christlichsoziale und Kath.-Konservative zur Tiroler Volkspartei zusammen und wählten S. zu ihrem ersten Obmann. Nach dem Krieg war S., der als Präs. des Tiroler Nationalrats, der damaligen kurzzeitigen Landesregierung, die Ämter des LHptm. und des Statthalters in einer Person vereinigte, den Anforderungen des Kampfes um Südtirol und der polit. Neuorganisierung des Landes nicht mehr ganz gewachsen. Sein Einsatz für eine neutrale Republik Tirol als letztes Mittel zur Rettung Südtirols scheiterte an den realpolit. Gegebenheiten. 1918–19 Mitgl. der Provisor. und der Konstituierenden Nationalversmlg., wurde S. nach den Landtagswahlen 1919 – auch auf Druck des dt. Konsuls in Innsbruck – als LHptm. bestätigt. Einer der letzten Höhepunkte seiner Amtszeit war die Tiroler Volksabstimmung 1921 über den Anschluß Österr. an das Dt. Reich. S., der bei den Nationalratswahlen 1920 seinem nunmehrigen Parteirivalen Schoepfer unterlegen war, lehnte 1921 enttäuscht seine Wiederwahl zum LHptm. ab, übte jedoch sein Bundesratsmandat, das er seit 1920 innehatte, bis zuletzt aus.

W.: Budgetrede des Landesausschußmitgl. J. S. gehalten im Tiroler Landtag am 11. November 1910, (1910); Programm des Tiroler Bauernbundes, 1919; Beitrr. in Z. und Ztg., u. a. in Jb. des kath. Tiroler Bauernbundes …, (1907ff.); usw. Hrsg.: Jb. des kath. Tiroler Bauernbundes …, (1911ff.); Tiroler Bauern-Ztg., 1915–20.
L.: RP, 24. 5. 1917; Wr. Stimmen, 11., Tiroler Bauern-Ztg., 13. 1. 1922; W. Haidegger, in: Tiroler Ehrenkranz, hrsg. von A. Lanner, 1925, S. 30f. (mit Bild); J. Rungg, in: Biograph. Jb. 4, 1929, S. 253ff.; M. Forcher, in: Osttiroler Heimatbll. Heimatkundl. Beilage des Osttiroler Boten 37, 1969, n. 3 (mit Bild); B. Erhard, Bauernstand und Politik (= Schriftenr. der Michael Gaismair-Ges. 1), (1981), passim; J. E. Tumler, Die Abg. zum Tiroler Landtag von 1861–1914, phil. Diss. Innsbruck, 1981, S. 63ff.; G. Pfaundler, Tirol Lex., 1983; R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jh. (= Veröff. des Tiroler LA 4), 1984, s. Reg., bes. S. 533ff. (mit Bild); J. Fontana, Vom Neubau bis zum Untergang der Habsburgermonarchie … (= Geschichte des Landes Tirol 3), (1987), s. Reg.; J. Riedmann, Das Bundesland Tirol (1918–70) (= Geschichte des Landes Tirol 4/2), (1988), s. Reg.; F. Haider, 25 Jahre Tiroler Bauernbund 1904–29, (1989), passim; Th. Frh. v. Kathrein, hrsg. von R. Schober (= Veröff. des Tiroler LA 7), 1992, s. Reg.; E. Pinzer, in: Tiroler Bauernkal. 79, 1992, S. 53f. (mit Bild); ders., in: Hdb. zur neueren Geschichte Tirols 2/1, hrsg. von A. Pelinka und A. Maislinger, (1993), s. Reg., bes. S. 40ff.; Biograph. Hdb. der österr. Parlamentarier 1918–93, 1993; J. W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna, (1995), s. Reg.; 75 Jahre Tiroler Bauernbund, o. J., bes. S. 194f. (mit Bild); Parlamentsarchiv, Wien.
(R. Schober)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 11 (Lfg. 52, 1997), S. 158f.
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