Seidler Gustav, Staatsrechnungs- und Staatswissenschaftler. Geb. Lipnik, Galizien (Bielsko-Biała, Polen), 3. 5. 1858; gest. Wien, 27. 3. 1933; evang. AB. Sohn eines Privatiers. Er absolv. 1876 das Gymn.in Teschen (Cieszyn, Český Těšín) und stud. danach bis 1880 an der Univ. Wien Jus. Im selben Jahr hielt sich S. zum Stud. des französ. Komptabilitätsverfahrens (Führung und Prüfung der Staatshaushaltsrechnung) einige Monate in Paris auf. 1881 Dr. jur. an der Univ. Wien, absolv. er die Gerichtspraxis beim Oberlandesgericht in Wien und war danach als Advokaturskonzipient tätig. 1883 habil. sich S. für Staatsrechnungswiss. an der jurid. Fak. der Wr.Univ. und suppl. ab 1884 dieses von Josef Schrott (geb. Wien, 17. 2. 1813; gest. Wien, 22. 12. 1888) seit 1870 an der Univ. Wien vertretene Fach. 1888 ao. Prof., suchte S. 1891 um Erweiterung seiner Venia legendi auf das Gebiet des Allg. und Österr. Staatsrechts an, was vom Min. jedoch abgelehnt wurde. Ab 1893 hielt er auch Spezialvorlesungen aus dem Staats-, insbes. Finanzrecht; 1898 erhielt S. den Titel und Charakter eines o. Prof. Er fungierte ab 1899 als Mitgl. der staatswiss. Prüfungskomm., ab 1911 der Komm. zur Förderung der Verwaltungsreform. 1911 Orden der Eisernen Krone III. Kl., 1918 HR; 1929 i. R. Er war bestrebt, das wiss. Niveau der Staatsrechnungswiss. (Finanzgebarung, Staatsbuchführung, Rechnungskontrolle) an jenes der anderen rechts- und staatswiss. Disziplinen anzugleichen, wobei er sein Interesse vom Finanz- und Budgetrecht auf das Staatsrecht (Verfassungs- und Verwaltungsrecht) ausdehnte. So bildete er als akadem. Lehrer nicht nur Generationen von Rechnungs- und Verwaltungsbeamten aus – sein Lehrbuch bzw. sein Leitfaden der österr. Staatsverrechnung (in dem er die Grundsätze der allg. Verrechnungslehre und des Staatsrechnungs- und Kontrollwesens behandelte) erreichten hohe Aufl. –, sondern er galt „vor allem in Deutschland als ein Pionier der jungen Staatsrechnungswissenschaft“ (Winkler). Von seinen Arbeiten auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre wurden „Zur Lehre vom Gewohnheitsrecht auf dem Gebiet des österr. Staats- und Verwaltungsrechtes“ und „Das juristische Kriterium des Staates“ noch 1997 neu hrsg. Sie wurden als „wertvolle geistesgeschichtliche Dokumente für eine empirische Staatsrechtslehre, die den Staat als ein geschichtlich gewordenes, real existierendes, komplexes kulturell-soziales Phänomen auffaßt ...“ (Winkler) charakterisiert.