Serner, Walter; früher Walter Eduard Seligmann (1889-1942), Schriftsteller

Serner Walter, Schriftsteller. Geb. Karlsbad, Böhmen (Karlovy Vary, Tschechien), 15. 1. 1889; gest. bei Minsk, Reichskommissariat Ostland (Weißrußland) (?), 1942 (ermordet); mos., ab 1909 röm.-kath. und gleichzeitig Namensänderung von Walter Eduard Seligmann in S. Sohn von Berthold Seligmann (s. d.). Nach dem Besuch des Gymn. in Karlsbad und der Matura in Kaaden (Kadaň) ging S. nach Wien, wo er 1909–12 an der Univ. Jus stud. (1913 Dr. jur. der Univ. Greifswald, an der er sein Stud. fortgesetzt hatte), aber auch als Korrespondent für die väterl. „Karlsbader Zeitung“ fungierte. Bald wurden hier zwei Persönlichkeiten für ihn bedeutsam: Karl Kraus (s. d.) und Oskar Kokoschka. In der Auseinandersetzung mit diesen beiden entwickelte er sein Kunst- und Literaturverständnis, zudem orientierte sich sein eigener Stil an Kraus. 1912 übersiedelte S. nach Berlin, wo er bald zu einem der wichtigsten Mitarbeiter von Franz Pfemferts „Aktion“ aufstieg und sich in seinen Beitrr. u. a. krit. mit dem Futurismus auseinandersetzte. 1914/15 emigrierte S. in die Schweiz und wurde in Zürich Mithrsg. der ersten, allerdings kurzlebigen, avantgardist. Exilz., „Der Mistral“, danach gab er seine eigene Z., „Sirius“, heraus, die mehr an dt.sprachiger Literatur orientiert war. In ihr finden sich bereits Bildbeigaben seines einzigen Lebensfreundes, des Malers Christian Schad. Obwohl S. schon früh enge Beziehungen zu den Züricher Dadaisten wie Hugo Ball und Tristan Tzara unterhielt, fällt seine aktive Teilnahme am Dadaismus erst in dessen Spätzeit. Trotzdem gilt S.s „Letzte Lockerung. manifest dada“ (1918 beendet) als eines der wichtigsten literar. Dada-Dokumente, in dem er eine luftig– leichte Lebensführung einfordert, aber auch vor Weltanschaulich-Philosophischem nicht Halt macht. Auffallend ist S.s sprachkrit. Zug und sein Hang, Argumente (formal-) log. zu fundieren. In der Nachkriegszeit konnte und wollte S. in den beiden Dada-Zentren, Berlin und Paris, nicht Fuß fassen, sondern entwickelte eine umfangreiche Reisetätigkeit durch Europa und begann, „Kriminalgeschichten“ zu schreiben. Bis 1927 publ. er 99 Erz. in vier Bde., den Roman „Die Tigerin“, 1925, der sicherl. den künstler. Höhepunkt seines Schaffens darstellt, sowie das Gaunerstück „Posada“, 1926. S.s „Kriminalgeschichten“ sind eigentl. „histoires criminelles“, bei denen es nicht um detektiv. Finessen geht, sondern um die Darstellung gesellschaftl. Prozesse. Bis heute kaum beachtet ist die Qualität von S.s erot. Schilderungen, die durchaus mit denen von Georges Bataille und Pierre Klossowski vergleichbar sind. Im Dezember 1927 erschien im Paul Steegemann Verlag die Kassette „Die Bücher von Walter Serner“ in sieben Bde., die neben allen literar. Arbeiten eine stark erweiterte Fassung der „Letzten Lockerung“ beinhaltete. Ende der 20er Jahre scheint S. sein literar. Schaffen eingestellt zu haben, mit der Machtübernahme Hitlers (s. d.) gerieten seine Bücher auf den Index. Er selbst zog sich nach wechselnden Aufenthaltsorten nach dem „Anschluß“ mit seiner Frau Dorothée, geb. Herz, geschiedene Stahl, die er im Februar 1938 geheiratet hatte, nach Prag zurück, von wo beide im August 1942 in das KZ Theresienstadt überstellt und noch im selben Monat nach dem Osten deportiert wurden, wo sie vermutl. in den fahrbaren Gaskammern in der Gegend von Minsk ermordet wurden. Erst in den 60er Jahren begann das Interesse an S. wieder zu erstarken, durch ehemalige Mitdadaisten wie Hans Richter und Max Ernst, Autoren wie Helmut Heißenbüttel und Germanisten wie Jörg Drews. Aber erst durch die akrib. Forschungsarbeit von Thomas Milch wurde die Dichte und Bedeutung des S.schen Œuvres offensichtl.

W.: Das Gesamte Werk, ed. Th. Milch, 8 Bde. und 2 Suppl.bde., 1984, Erg.bd. 1992, Taschenbuchausg. 1988; Die Tigerin. Eine absonderl. Liebesgeschichte, ed. A. Puff-Trojan, 1998; Das erzähler. Werk in 3 Bde. (= Goldmanns btb 72724–72726), 2000; etc.
L.: Hall–Renner; Killy; W. S. Der Abreiser. Materialien zu Leben und Werk (= ders., Das Gesamte Werk 8), (1984) (mit Bildern); U. Hackenbruch, Sachl. Intensitäten. W. S.s „erotische Kriminalgeschichten“ in ihrer Epoche (= Analysen und Dokumente 37), 1996; Th. Milch, in: Der Pfiff aufs Ganze. Stud. zu W. S., ed. A. Puff-Trojan – W. Schmidt-Dengler, 1998, S. 109ff. (W. und L. 1945–96); Ch. Schad, Relative Realitäten. Erinnerungen um W. S., 1999 (mit Bildern); Mitt. Thomas Milch, Heidelberg, Dtld.
(A. Puff-Trojan)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 56, 2002), S. 191
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