Soyfer, Jura (Juri); Ps. Fritz Feder, Walter West, Norbert Noll etc. (1912-1939), Schriftsteller

Soyfer Jura (Juri), Ps. Fritz Feder, Walter West, Norbert Noll etc., Schriftsteller. Geb. Charkow, Rußland (Charkiv, Ukraine), 8. 12. 1912; gest. KZ Buchenwald, Dt. Reich (Dtld.), 15./16. 2. 1939; mos. – Sohn eines russ. Industriellen. S. wuchs in Charkow auf, flüchtete jedoch nach der Oktoberrevolution mit seiner Familie 1920 nach Österr. und lebte zunächst in Baden, ab 1923 in Wien. Er besuchte den jüd. Religionsunterricht und trat im Realgymn. der Vereinigung Sozialist. Mittelschüler bei. Das sozialdemokrat. „Politische Kabarett“ wurde 1929/30 die erste Bühne für S.s krit. Couplets und Lieder. Daneben publ. er in der Z. „Der Schulkampf“ und interessierte sich für die austromarxist. Kritik im Umfeld von Ernst Fischer. Im Sommer 1930 entstand der Prosazyklus „Menschen der Landstraße“, mit dem S. in der „Arbeiter-Zeitung“ debüt.; 1931 folgte als Reaktion auf Fischers vieldiskutierte „Krise der Jugend“ sein Antworttext „Verzweiflung der Jugend“. Nach der Matura hörte S. an der Univ. Wien 1931–35 Dt. und Geschichte. Ab Jänner 1932 erschienen Ged. bzw. „Zeitstrophen“ regelmäßig in der „Arbeiter-Zeitung“ und begleiteten die polit. Konfrontation bzw. den Wahlkampf der Sozialdemokratie. Die Reportage „Deutschland 1932“ dokumentierte S.s Begabung zu treffender polit. Analyse und deren journalist.-literar. Einkleidung. I. d. F. lieferte er in sozialdemokrat. Bll. regelmäßig Beitrr. zu aktuellen Debatten, etwa über das Verhältnis Kunst – Propaganda, Faschismus – Widerstand. U. a. argumentierte S. mit Erwin Piscator gegen die Unterhaltungsind. sowie für die Integration avantgard. Techniken in die Bewußtseins- und Textarbeit, sichtbar bereits in frühen Gemeinschaftsproduktionen für das Kabarett sowie in den sog. Mittelstücken, die ab 1935 für Kleinkunstbühnen entstanden. Nach der Ausschaltung der Sozialdemokrat. Partei im Februar 1934 und der Zerschlagung ihrer kulturellen und publizist. Strukturen schloß sich S. der illegalen Kommunist. Partei Österr. (KPÖ) an, übernahm jedoch keine Funktionen, sondern begann mit der Arbeit an seinem unvollendet gebliebenen ehrgeizigen Roman über die Vorgeschichte und das Scheitern des Februaraufstands, „So starb eine Partei“. Über Vermittlung von Willy Spira konnte er 1935 Reportagen und Skizzen im „Sonntag“, der Wochenendbeilage des „Wiener Tag“, publ. und in der Szene der oppositionellen Kleinkunstbühnen Fuß fassen, wo er ab 1936 v. a. für das polit. exponierte „ABC“ Stücke wie „Der Weltuntergang“, „Astoria“ oder „Vineta“ verf. Während „Astoria“ als visionäre Realsatire auf einen faschistoiden Schwindelstaat und zeitadäquate Adaption des iron.-subversiven Vermächtnisses von Nestroy (s. d.) gesehen werden kann, stehen in „Vineta“ der Ständestaat und die Apathie seiner Bevölkerung unter Verwendung avantgard. Techniken am Pranger. Kennzeichnend für S.s dramat. Werk sind auch die songartigen Lieder mit ihrer Verpflichtung auf eine konkrete, operative Utopie hin (z. B. „Wenn der Himmel grau wird“ in „Astoria“ oder „Telegraphen-Chanson“ im „Weltuntergang“). 1937 folgten „Broadway-Melodie 1492“ (vertont durch Jimmy Berg) und Essays über Aspekte der literar. Tradition wie der Moderne, welche S.s ästhet.- krit. Originalität zwischen Karl Kraus, Ö. v. Horváth (beide s. d.) und Bertolt Brecht bezeugen. Im November 1937 wurde S. wegen Verdachts propagandist. Arbeit für die KPÖ verhaftet und blieb bis Mitte Februar 1938 in Haft. Er entschloß sich zur Emigration, wurde jedoch im März 1938 beim Versuch, in die Schweiz zu gelangen, aufgegriffen und im Juni in das KZ Dachau transportiert, wo er das „Dachaulied“ verf. Im September in das KZ Buchenwald überstellt, erlag S. schließl. einer Typhusinfektion.

W. (auch s. u. Kosch): Vom Paradies zum Weltuntergang, ed. O. Tausig, 1947; Das Gesamtwerk, ed. H. Jarka, 1980; Werkausg., 4 Bde., ed. ders., (2002); etc. – Werksübers. in über 10 Sprachen.
L.: Bolbecher–Kaiser; Hall–Renner; Killy; Kosch (m. W. und L.); P. Langmann, Sozialismus und Literatur (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 12), 1986; H. Jarka, J. S., 1987; G. Scheit, Theater und revolutionärer Humanismus. Eine Stud. zu J. S. (= Antifaschist. Literatur und Exilliteratur – Stud. und Texte 1), 1988; A. Schininà, J. S., 1989; Die Welt des J. S., ed. H. Arlt u. a. (= Zwischenwelt 2), 1991; J. S., ed. J.-M. Winkler, 1994; Grenzüberschreitungen, ed. H. Arlt – K. Krolop (= Österr. und internationale Literaturprozesse 4), 1995; J. S. and His Time, ed. D. D. Daviau, 1995; Lachen und J. S., ed. H. Arlt – F. Cambi, 1995; J. Doll, Theater im Roten Wien (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 43), 1997; Metzler Lex. der dt.-jüd. Literatur, ed. A. B. Kilcher, 2000; Website der
J. S. Ges.; UA, Wien. (P.-H. Kucher)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 12 (Lfg. 58, 2005), S. 438f.
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