Stourzh (Stourzh-Anderle), Helene; geb. Anderle (1890–1966), Frauenärztin und Schriftstellerin

Stourzh (Stourzh-Anderle) Helene, geb. Anderle, Frauenärztin und Schriftstellerin. Geb. Klosterneuburg (Niederösterreich), 17. 6. 1890; gest. Wien, 21. 2. 1966. Tochter des Bauingenieurs Franz Anderle (geb. Lundenburg, Mähren / Břeclav, CZ, 2. 4. 1847; gest. Oberaichwald, Kärnten, 12. 9. 1922) und von dessen Gattin Anna Anderle, geb. Himmel (geb. Wien, 12. 10. 1863; gest. ebd., 23. 1. 1954), Mutter des Historikers Gerald Stourzh (geb. Wien, 15. 5. 1929); ab Juli 1928 verheiratet mit dem Schriftsteller und Beamten →Herbert (von) Stourzh. – S. besuchte das Mädchen-Obergymnasium des Vereins für erweiterte Frauenbildung, wo sie 1910 maturierte. 1910–15 studierte sie Medizin an der Universität Wien. Bereits 1913 wurde sie Demonstrator bei →Julius Tandler an der I. Anatomischen Lehrkanzel, ihre erste wissenschaftliche Arbeit „Zur Anatomie der Querschnittstopographie der Nerven an der oberen Extremität“ publizierte sie 1914 im 1. Band der von Tandler herausgegebenen „Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre“; 1915 Dr. med. 1916–18 fungierte sie als Internärztin an der 2. Frauenklinik in Wien (Klinik Wertheim), danach war sie dort bis 1920 als erste weibliche klinische Assistentin in Österreich tätig. 1918 wurde sie auf Antrag Tandlers, Ernst Wertheims und anderer als eine der ersten Frauen in die Gesellschaft der Ärzte aufgenommen. 1920–62 übte sie die ärztliche Praxis aus. S. entwickelte ein starkes volksbildnerisch-pädagogisches Interesse im Bereich Frauenheilkunde und Sexualerziehung. Ab 1918 hielt sie zahlreiche Vorträge in der Urania, ab 1922 publizierte sie Aufsätze, auch zu allgemein pädagogischen und ethischen Fragen, mehrfach in der bis 1934 bestehenden liberal-progressiven Zeitschrift „Die Bereitschaft“ (u. a. „Entpolitisierung der Jugend“ 12, 1932). Ab 1929 engagierte sie sich in der neu gegründeten Österreichischen Frauenpartei. Nach dem frühen Tod ihres Mannes kam es zu einer verstärkten Hinwendung zur wissenschaftlichen Arbeit mit Schwerpunktthemen im Bereich der Sexualforschung (Konstitutionenlehre) und der Gynäkologie (Vaginismus, Anorgasmie). S. entwickelte eine Typenlehre der menschlichen Konstitution auf Grundlage der Sexualität. Neben den (eher seltenen) „reinen“ normosexuellen Typen steht dabei der weit gefasste Bereich der parasexuellen Typen. Die Konstitutionenlehre wurde nach zahlreichen Vorarbeiten in der Monographie „Sexuelle Konstitution. Psychopathie, Kriminalität, Genialität“ (1955) zusammengefasst. In dem Buch „Die Anorgasmie der Frau“, 1961 (2. ergänzte Auflage 1962), tritt sie für die Eliminierung des pejorativen Begriffs Frigidität und dessen Ersetzung durch den neutralen Begriff Anorgasmie ein. Die Rezensionen zu beiden Monographien waren teils sehr positiv, teils auch kritisch in Hinblick auf die eher biologisch als tiefenpsychologisch geprägte Orientierung der Verfasserin. In ihren letzten Lebensjahren befasste sich S. mit dem sexuellen Verhalten weiblicher Zwillinge.

Weitere W.: s. Mildenberger.
L.: W. Denk, in: WKW 78, 1966, S. 202; H. Benjamin, The Transsexual Phenomenon, 1966, S. 43; F. Mildenberger, Allein unter Männern, 2004 (m. W.); Personenlexikon der Sexualforschung, ed. V. Sigusch – G. Grau, 2009; UA, Wien.
(G. Stourzh)   
Zuletzt aktualisiert: 15.11.2014  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 3 (15.11.2014)