Thugut (Johann Amadeus) Franz Maria Frh. von, Diplomat und Politiker. Geb. Linz (OÖ), 31. 3. 1736; gest. Wien, 28. 5. 1818; röm.-kath. Sohn des aus Böhmen stammenden Beamten des Linzer Militärzahlamts Philipp Joseph T. und der Guntramsdorfer Müllerstochter Eva Maria T., geb. Mösbauer. – Nach dem Besuch des Jesuitengymn. in Linz wurde T. 1753 in die neu gegr. Oriental. Akad. in Wien aufgenommen und ein Jahr später als Sprachknabe nach Konstantinopel (İstanbul) geschickt, wo er ab 1757 als Dragoman (Dolmetscher) tätig war. 1766 wurde er als Übers. in die Staatskanzlei berufen und zum Hofsekr. ernannt. Bald danach ließ sich T., vielleicht sogar mit Wissen des Staatskanzlers Wenzel Anton Fürst v. Kaunitz-Rietberg, als geheimer Agent von Frankreich anwerben, das ihm bis 1790 jährl. 13.000 livres zahlte. 1769 erfolgte seine Ernennung zum Geschäftsträger, 1770 zum Residenten und 1771 zum Internuntius bei der Hohen Pforte (bis 1776). Die beiden Aufenthalte in Konstantinopel begründeten ein lebenslanges Interesse T.s an Geschichte und Kultur des Osman. Reichs. In den Verhh. nach dem Abschluss des Friedens von Küçük Kaynarca konnte er 1775 die Bukowina für Österr. gewinnen. 1777 entsandte ihn Maria Theresia in diplomat. Mission nach Paris und Neapel, während des Bayer. Erbfolgekriegs hinter dem Rücken K. Josephs II. zu geheimen Verhh. mit Friedrich II. v. Preußen, die letztl. 1779 zum Frieden von Teschen führten. 1780–83 war T. österr. Gesandter in Warschau, doch verließ er diesen Posten auf eigenen Wunsch, um für vier Jahre in Paris zu leben, wo er mit vielen später an der Französ. Revolution beteiligten Persönlichkeiten in Kontakt kam. 1787 österr. Vertreter in Neapel, ernannte ihn Joseph II. 1789 zum Unterhändler für die Friedensverhh. mit der Türkei. Diese überließ er jedoch vor dem Abschluss in Sistowa seinem Kollegen Peter Philipp Frh. v. Herbert-Rathkeal, um im Mai 1791 in geheimer Mission nach Paris zu gehen. Während dieses Aufenthalts kam es zum missglückten Fluchtversuch der französ. Kg.familie, der gerüchteweise mit T. in Verbindung gebracht wurde. Nach dem Scheitern von Cobenzls Politik einer Annäherung an Preußen infolge der Zweiten Teilung Polens, welche Österr. vor vollendete Tatsachen stellte, wurde T. im März 1793 zum Gen.dir. der auswärtigen Angelegenheiten und ein Jahr später zum Minister der auswärtigen Geschäfte bestellt. Während seiner achtjährigen Amtszeit verfolgte er konsequent die österr. Großmachtpolitik in der Tradition seines Mentors Kaunitz, die auch sein Verhältnis zum Reich bestimmte. Hauptziele seiner Politik, die durch Misstrauen gegenüber Preußen und – gem. mit England und Russland – durch eine kompromisslose Gegnerschaft zum revolutionären Frankreich geprägt war, bildeten die Bemühungen um territoriale Gewinne in Polen und Italien. Mit der Dritten Teilung Polens 1795 und der Erwerbung des größten Tl. der Republik Venedig im Frieden von Campo Formido 1797 konnte T. zumindest einige dieser Ziele erreichen. Nach dem Scheitern seiner Politik infolge des Ausscheidens Russlands aus der Koalition und der Niederlagen von Marengo und Hohenlinden 1800 im 2. Koalitionskrieg musste T. zurücktreten. Er wurde allerdings noch gelegentl. zu Stellungnahmen herangezogen, wobei er v. a. →Johann Philipp Karl Gf. v. Stadion-Warthausen wiederholt scharf kritisierte. Im Oktober 1809 kam es auf ausdrückl. Wunsch Napoleons I. zu einer Unterredung in Schönbrunn. Ansonsten widmete sich T. seinen orientalist. Interessen, die ihn u. a. auch mit →Joseph Frh. v. Hammer-Purgstall in Kontakt brachten. Wegen seiner Verdienste um die Beendigung des russ.-türk. Kriegs 1774 wurde er in den Frh.stand erhoben. Die Politik T.s, deren Erfolg zumindest im Bereich des Möglichen lag, sind ebenso wie sein Charakter nach wie vor Gegenstand kontroversieller Diskussionen.