Thun und Hohenstein, Franz Fürst von (1847–1916), Politiker

Thun und Hohenstein Franz Fürst von, Politiker. Geb. Tetschen, Böhmen (Děčín, CZ), 2. 9. 1847; gest. ebd., 1. 11. 1916; röm.-kath. Böhm. Linie, Fideikommiss Tetschen. Enkel von Franz Anton d. Ä. Gf. v. T. u. H. (1786–1873), Sohn von →Friedrich Gf. v. T. u. H., Bruder von →Jaroslav Fürst v. T. u. H., Neffe von →Franz Anton d. J. Gf. v. T. u. H. und →Leo Gf. v. T. u. H.; ab 1874 in 1. Ehe verheiratet mit der Palast- und Sternkreuzordensdame Anna Marie Gfn. v. T. u. H. (1854–1898), der Tochter von →Karl III. Fürst zu Schwarzenberg, ab 1901 in 2. Ehe mit der Palast- und Sternkreuzordensdame Ernestine Gabriele Gfn. v. T. u. H. (1858–1948), der Schwester von →Oswald Gf. v. T.-H.-Salm-Reifferscheid(t). ‒ Nach erstem häusl. Unterricht war T. 1856–65 Privatschüler in Verona, St. Petersburg, Böhm. Leipa (Česká Lípa), Kremsier (Kroměříž) und am Wr. Akadem. Gymn. 1865–69 stud. er Rechtswiss. in Wien, 1872 immatrikulierte er als Hörer der Bodenkultur an der Univ. Halle; ab 1869 Res.off.laufbahn in den Dragonerrgt. 14 und 13 (1891 Mjr. der Res.). T. trat bereits in den 1870er-Jahren als Redner in Versmlgg. kath.-polit. Ver. in Böhmen gegen die (liberalen) konfessionellen Gesetze und für die Wiederherstellung der weltl. Macht des Papstes ein; 1873 Teilnehmer einer Deputation des kath. europ. Hochadels bei Papst Pius IX. 1879–81 war T. Mitgl. des AH, ab 1883 saß er als konservativer Abg. des fideikommissar. Großgrundbesitzes im böhm. LT (bis 1889 und erneut 1901–11), wo seine 1888 geäußerte Forderung nach der böhm. Kg.krönung →Franz Josephs Aufsehen erregte. Trotzdem wurde T. im Folgejahr Statthalter von Böhmen, nachdem die LT-Wahlen den Jungtschechen enorme Zugewinne auf Kosten der Alttschechen gebracht hatten. T. unterstützte die im Jänner 1890 zwischen Vertretern der dt. Parteien und Alttschechen durch Vermittlung →Eduard Gf. Taaffes vereinbarten Maßnahmen (die „Wiener Punktationen“) und versuchte deren landesgesetzl. Umsetzung. Der Widerstand der Jungtschechen ließ diese Initiative scheitern. Der Radikalismus der bei den RR-Wahlen 1891 siegreichen Jungtschechen führte zur Verhängung des Ausnahmezustands, wofür T. verantwortl. gemacht wurde. Im neu gewählten LT ließ die jungtschech. Obstruktion Ende Dezember 1895 Statthalter T. nicht mehr zu Wort kommen; daher demissionierte er und wurde mit Ende der LT-Session (Februar 1896) entlassen. Ab März 1898 sollte T. als Ministerpräs. das durch die Obstruktion der dt. Parteien gegen die Badeni’schen Sprachenverordnungen lahmgelegte AH wieder arbeitsfähig machen. Wegen der fortgesetzten Obstruktion konnte der wirtschaftl. Ausgleich mit Ungarn ebenso nur per Notverordnung (§ 14) in Kraft gesetzt werden wie die damit zusammenhängende Erhöhung der Zuckersteuer. Letztere stieß im Sommer 1899 v. a. in Nordböhmen auf heftige Proteste, die tw. militär. niedergeworfen wurden. T. demissionierte und wurde Anfang Oktober 1899 entlassen. 1900 zum Obmann der Rechten des HH, dem er ab 1881 als erbl. Mitgl. angehörte, gewählt, wurde er als brillanter Redner und geschickter Verhandler zur Galionsfigur des kath.-konservativen Großgrundbesitzes. Das allg. und gleiche Männerwahlrecht für das AH (1907), das er leidenschaftl. bekämpfte, vermochte er aber nicht zu verhindern. Wegen der Verschärfung der polit. Krise in Böhmen wurde T. ab 1909 in Verhh. zwischen beiden Lagern involviert, wobei er sich das Vertrauen beider Seiten erwerben konnte. Im Jänner 1911 ernannte ihn der K. zum böhm. „Ausgleichsstatthalter“. Ein entscheidender Durchbruch blieb ihm jedoch versagt. Die im Frühjahr 1913 von T. mitentwickelten alternativen Strategien führten zum „Annenpatent“ vom Juli 1913, mit dem das Kg.reich Böhmen vorübergehend unter die Verwaltung einer vom K. zu ernennenden Landesverwaltungskomm. gestellt wurde. Nach Ausbruch des Weltkriegs trat T. als Leiter der Zivilverwaltung den antitschech. Verdächtigungen der Militärbehörden entgegen. Dabei blieb er erfolglos. Gesundheitl. angeschlagen und zermürbt von den Verdächtigungen seitens des Militärs, räumte T. am 27. März 1915 seinen Posten. 1896 war T. kurzzeitig Oberster Hofmeister von Erzhg. →Franz Ferdinand, zu dem er auch in späteren Jahren noch Kontakt pflegte; 1882 Fideikommissherr der Herrschaft Tetschen, 1890 Großkreuz des Leopold-Ordens, 1896 Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, 1899 Großkreuz des St. Stephans-Ordens (1915 mit Brillanten), 1911 in den Fürstenstand erhoben.

W.: Eine Orientreise, 1891.
L.: Neues Wr. Journal, 12. 11. 1916; Czedik 2, S. 169ff.; G. Kolmer, Das HH des österr. RR, 1907, S. 328ff.; J. Thun-Hohenstein, Beitrr. zu unserer Familiengeschichte 1, 1925, S. 25; L. Thun, Erinnerungen aus meinem Leben, 3. Aufl. 1926; H. Hanel, Die Geschichte meiner Jugend, 1930, S. 94ff. (m. B.); F. Gf. Lanjus, Die erbl. Reichsratswürde in Österr., 1939, S. 121, 202; U. Naschold, F. Gf. v. T. u. H. und die Zeit seiner Ministerpräsidentschaft (1898–99), phil. Diss. Wien, 1959; E. Kielmansegg, K.haus, Staatsmänner und Politiker, 1966, S. 271ff. (m. B.); B. Svatoš, Fürst F. v. T. u. H. und die Situation in Böhmen zu Beginn des Ersten Weltkrieges ..., phil. Diss. Wien, 1972; E. Rutkowski, Briefe und Dokumente zur Geschichte der österr.-ung. Monarchie 1‒3, 1983–2011, s. Reg.; K. Kazbunda, Otázka česko-německá v předvečer Velké války, 1995, s. Reg.; J. Galandauer, F. Fürst T., 2014 (m. B.); AVA, KA, UA, alle Wien.
(H. P. Hye)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 65, 2014), S. 322f.
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