Tilgner Victor (Viktor) Oskar, Bildhauer. Geb. Preßburg, Ungarn (Bratislava, SK), 25. 10. 1844; gest. Wien, 16. 4. 1896 (Ehrengrab: Wr. Zentralfriedhof); röm.-kath. Sohn des Sappeur-Hptm. Carl T. und von Ida T.; verheiratet mit Marianne Baum. – T. wuchs in Wien auf, stud. 1859–61 und 1863–71 an der Wr. ABK bei →Franz Bauer sowie im Atelier von →Josef v. Gasser-Walhorn, kam in Kontakt zu →Josef Daniel Böhm und wurde nach Abschluss des Stud. von dem zeitweise in Wien tätigen französ. Bildhauer Gustave Deloye beeinflusst. Nach anfängl. Widerständen gegen seine maler. Manier erzielte T. 1873 den Durchbruch mit einer polychromierten Porträtbüste der Schauspielerin Charlotte Wolter in Makart-Manier und zählte seither zu den führenden Bildhauern der Monarchie. In Wien waren zunächst v. a. seine Porträtfähigkeiten gefragt, was sich neben zahlreichen Aufträgen für Bildnisbüsten, -statuen und Halbfiguren der gehobenen Ges. und des K.hofs auch in solchen für Grabmäler dokumentierte: Diese reichten vom einfachen Büstentypus über aufwendige Reliefstelen, die dreidimensionale Ganzfigur (Kenotaph für Prinz August v. Sachsen-Coburg und Gotha, 1885) und gesamtkunstwerkhafte Ensembles (Grabmal Oppolzer, 1887–89) bis zum Castrum doloris aus Stein und Bronze (Grabmal →Johann Nep. Prix, 1894). 1874 finanzierte ihm →Friedrich Franz Josef Frh. v. Leitenberger eine Italienreise gem. mit →Hans Makart, dessen Einfluss sich stilist. nicht nur in etlichen aufwendig drapierten Porträts der 1870er-Jahre, sondern auch im „Triton- und Nymphenbrunnen“ (Modell 1875, 1877 in Bronze, Volksgarten, Wien) äußerte. I. d. F. gehörte T. zu den von K. →Franz Joseph I. bes. geschätzten Künstlern, was sich in Aufträgen für das k. Jagdschloss (Hermesvilla), die Kaiservilla in (Bad) Ischl und die Gedächtniskapelle in Mayerling ausdrückte. Zu den bemerkenswerten Fontänen T.s zählte der gem. mit →Andreas Streit geschaffene Ganymed-Brunnen in Preßburg, 1888. Einen weiteren Schwerpunkt in seinem Œuvre bildete die Bauplastik: So war er bei den meisten Ringstraßenbauten tätig, v. a. bei den Hofmus., der Hofburg und dem Burgtheater. Anders als seine Kollegen tendierte T. zu szen. oder illusionist.-bildhaften Bereicherungen, die den herkömml. bauplast. Kanon sprengten (Don Juan, 1886, Burgtheater) und den umgebenden Raum in die theatral. Aktion in erhöhtem Maß integrierten, womit er französ. Anregungen der Carpeaux-Richtung und der heim. Barocktradition reflektierte. Sein größter privater bauplast. Auftrag waren die Portalgruppe sowie die bronzenen Fassadenstatuen für das Palais Equitable (ca. 1887–92, Wien). Weiters schuf er zahlreiche kleinplast. Arbeiten, die zum Tl. in Metall ausgeführt waren, wobei T. mit verschiedenen Künstlern zusammenarbeitete (z. B. Silberner Schönborn’scher Jagd-Tafelaufsatz, ca. 1894–96, ausgeführt von Karl Kellermann). Erst relativ spät konnte sich T. mit dem Hummel-Monument (1884–87, Preßburg) im Denkmalbereich durchsetzen; es folgte das Josef-Werndl-Denkmal (1894, Steyr), das den herkömml. Herrscher-Trabanten-Typus, offene Form und räuml. Aktion in neuartiger Weise mit Alltagstracht und monumentalisierten Arbeiterfiguren verband. In einem erbitterten Konkurrenzkampf mit →Edmund v. Hellmer um das Goethe- und um das Mozart-Denkmal in Wien vermochte sich T. bei Letzterem durchzusetzen, verstarb jedoch kurz vor dessen Enthüllung. Dass T. über solche Einzelaufgaben hinaus dachte, dokumentiert sein nicht ausgeführter Entwurf für die Gestaltung des Schwarzenbergplatzes (1887) sowie die 1888 projektierte Neugestaltung des Rathausplatzes und -parks. T. war nicht nur der fruchtbarste Porträtist und der international wohl wirksamste und bekannteste österr. Bildhauer der Ringstraßenzeit, sondern auch einer der vielseitigsten. Er setzte sowohl französ. Einflüsse des Barocks und der barockisierenden, maler. Richtung der zeitgenöss. französ. Skulptur ein, verband jene anfangs in sog. Apparatbüsten mit makartscher Dekorationskunst, übernahm jedoch auch die psycholog. Belebung und den Realismus, dämpfte dabei aber den Effekt zu einer im Vergleich zu Frankreich meist etwas verhalteneren Ausdrucksweise, der oft genrehafte Züge eigen sind. Später ließ er sich wiederholt von Georg Raphael Donner inspirieren. So reicht die stilist. Spannweite von rokokohafter Fülle bis zur schlichten Kopfstud. ohne dekoratives Beiwerk. T. führte die Licht-Schatten-Manier zu einem Höhepunkt, wobei er dem Impressionist. nahekam, ohne diese Sichtweise radikal umzusetzen. Ausgeprägt war die Lust zur Polychromie; im Spätwerk ergaben sich sogar subtile Ansätze zu secessionist. Formen. T. gehörte zum engsten Freundeskreis von →Johann Strauß (Sohn) und →Johannes Brahms, die er mehrfach porträtierte, und wurde u. a. 1883 Prof. h. c., 1888 Ehrenmitgl. der Wr. ABK, 1887 Mitgl. der Berliner Akad. der Künste; ab 1869 Mitgl. der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens (Künstlerhaus). Zu T.s Schülern zählten u. a. →Johann Fadrusz, →Arthur Kaan, →Theodor Khuen und →Art(h)ur Strasser. Größere Werkbestände bewahren die Österr. Galerie und das Wien Mus. (beide Wien) sowie die Galéria mesta Bratislavy.