Tisza von Borosjenő Kálmán (Koloman), Politiker. Geb. Geszt (H), 16. 12. 1830; gest. Budapest (H), 13. 3. 1902; evang. HB. Sohn des Vizegespans und Kom.administrators von Bihar Lajos T. v. B. (1798‒1856) und von Julianna T. v. B., geb. Gfn. Teleki v. Szék, der Schwester von →László Gf. Teleki v. Szék d. J., Bruder des Obergespans und Ministers Lajos Gf. T. v. B. u. Szeged (1832‒1898), Vater von →István Gf. T. v. B. u. Szeged; ab 1860 verheiratet mit Ilona Gfn. Degenfeld-Schonburg. – Bis 1847 erhielt T. Privatunterricht, anschließend legte er die Reifeprüfung in Debreczin (Debrecen) ab. 1848 war er Mitgl. der Nationalgarde, i. d. F. Referendar im Min. für Kultus und Unterricht in Pest (Budapest), dann in Debreczin. Nach der Kapitulation von Világos hörte er Vorlesungen an der Berliner Univ. und bereiste Belgien, Frankreich und England. Nach seiner Rückkehr 1852 blieb er weiterhin in Verbindung mit ung. Exilpolitikern. 1859–60 führte er die Oppositionsbewegung gegen das Protestantenpatent von →Leo Gf. v. Thun u. Hohenstein an. 1861 zog T. als Abg. in den ung. RT ein und wurde i. d. F. Vizepräs. des AH. Zusammen mit Teleki stand er an der Spitze der stärkeren oppositionellen Gruppierung (Beschlusspartei, dann Linkspartei, später Linkszentrum), nach dem Selbstmord Telekis 1861 übernahm T. deren Führung. Während des Provisoriums veröff. er Artikel über die Modernisierung des Kom.systems sowie zu Fragen liberaler Wirtschafts- und Außenpolitik und beteiligte sich an der Gründung der Ung. Bodencredit-Anstalt (1862) sowie des Ung. Wirtschaftsver. (1862). Ab 1865 war T. wieder Abg. und befürwortete den ung.-österr. Ausgleich (Mitgl. in der Vorbereitungskomm.) sowie die Einführung des Konstitutionalismus auch in der österr. Reichshälfte, lehnte jedoch gem. Min., eine gem. Armee sowie die Delegationen ab. Nach 1867 bemühte er sich, die Opposition für die Idee einer Personalunion zu gewinnen. 1868 formulierte er seine Ziele in den „Biharer Punkten“ und kündete die formelle Bildung einer Partei an. Nach der Wirtschaftskrise von 1873 näherte sich T. der Regierungspartei an und ließ das Biharer Programm suspendieren. Schließl. fusionierte unter seiner Führung die Deák-Partei mit dem linken Zentrum zur Liberalen (Freisinnigen) Partei, die bei den Wahlen 1875 eine große Mehrheit errang. T. bekleidete im selben Jahr über mehrere Monate das Amt des Innenministers im Kabinett von Baron Wenckheim. Inzwischen hatte →Julius Gf. Andrássy (d. Ä.) K. →Franz Joseph I. von T.s Loyalität überzeugt, sodass dieser im Oktober 1875 ung. Ministerpräs. wurde. T., der am längsten amtierende ung. Regierungschef, war zudem 1875–87 Innen- und 1878 bzw. 1887–89 Finanzminister. Zu Beginn seiner Regierungszeit war T. bemüht, einen Systemwechsel einzuleiten, indem er den Ausgleich zu Gunsten Ungarns zu modifizieren suchte. Er kündigte den 1867 geschlossenen Handels- und Zollvertrag auf und forderte eine ung. Notenbank. Die schwierigen Verhh., in deren Verlauf T. sogar für einige Tage zurücktrat, wurden mit einem Kompromiss abgeschlossen. In der Bosnienkrise unterstützte T. zwar die in Ungarn unbeliebte Okkupationspolitik Andrássys, war aber gegen weitere Expansionsbestrebungen; auch in diesem Fall setzte er seine Demissionierung als Druckmittel ein. Erst nach der Konsolidierung des Staatshaushalts 1878 begann eine tatsächl. Ruheperiode. Mit feinem takt. Gespür hielt er alle 1867er-Strömungen in seiner Partei (Liberale und Konservative, Agrarier und Klerikale) zusammen, sicherte damit eine liberale Herrschaft in Parlament und Land (bis 1905) und ermöglichte eine gemäßigte Reformpolitik. In seiner Amtszeit erreichte, nicht zuletzt dank seiner Maßnahmen, die industrielle Revolution Ungarn. Im Parlament quasi allmächtig geworden, konnte er einen zentralisierten staatl. Organismus ausbauen und die Verwaltung sowie die Kom.struktur modernisieren (Gmd.gesetz, Munizipalgesetz 1886, Neugründung der Gendarmerie 1881 etc.). Seine wirtschaftl. und jurid. Reformpolitik und Gesetzgebung war charakterisiert durch einen konservativen Liberalismus (Handelsgesetz 1875, Strafgesetzbuch 1878). In der Nationalitätenpolitik bekämpfte er die polit. Bestrebungen der Minderheiten und unterstützte die Magyarisierung, u. a. mittels seiner Schulpolitik. Seine Maßnahmen bezweckten die Aufrechterhaltung der magyar. polit. Hegemonie und den Ausbau des Nationalstaats. Der Konflikt um das neue Wehrgesetz 1888 erschütterte seine Stellung in Wien und Budapest. Seine Niederlage im Streit um die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft von →Lajos Kossuth v. Udvard u. Kossut führte 1890 zum Rücktritt. Bis 1901 blieb er weiterhin angesehener Abg. T. wurde 1867 Oberkurator des ref. Kirchendistrikts Transdanubien, 1880 erhielt er das Großkreuz des St. Stephans-Ordens. Ab 1881 war er Dion.- und ab 1888 Ehrenmitgl. der MTA.