Trubetzkoy (Trubeckoj), Nikolaj Sergeevič Fürst (1890–1938), Philologe, Ethnologe und Kulturphilosoph

Trubetzkoy (Trubeckoj) Nikolaj Sergeevič Fürst, Philologe, Ethnologe und Kulturphilosoph. Geb. Moskau (Moskva, RUS), 16. 4. 1890; gest. Wien, 25. 6. 1938; russ.-orthodox. Sohn von Sergej Nikolaevič Fürst Trubeckoj, Prof. der Phil. der Univ. Moskau, und Praskovʼja Vladimirovna Trubeckaja, geb. Obolenskaja, Schwiegervater des Slawisten Alexander Issatschenko (1911–1978); ab 1914 verheiratet mit Vera Petrovna Bazilevskaja, vier Kinder. – T., der sich schon früh für Ethnol. und Linguistik interessierte, erhielt Hausunterricht mit Ablegung der Prüfungen an einem Moskauer Gymn. Bereits ab 1904 frequentierte er die Moskauer Ethnograph. Ges., wo Vsevolod Miller und Stefan Kuznecov T.s erste Stud. und Publ. – über finno-ugr. Volkskde. und Sprachen, kaukas. und paläoasiat. Sprachen – förderten; ab 1908 stud. er an der Univ. Moskau u. a. Völkerpsychol. und Geschichtsphil., später allg. Sprachwiss., Sanskrit und Indogermanistik; 1910–11 Feldforschungen und Stud. zum Tscherkess.; 1913 „Kandidatenarbeit“ aus Indogermanistik sowie Vorträge in Tiflis (Tbilisi). 1913/14 stud. T. als Stipendiat in Leipzig u. a. bei Karl Brugmann und August Leskien. Von 1916 bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 Priv.Doz. an der Univ. Moskau (allg. und vergleichende Sprachwiss. und altind. Sprache), wandte er sich gegen die linguist. Rekonstruktionsmethoden Filipp Fortunatovs und dessen junggrammat. „Moskauer Schule“ und forschte zur hist. Linguistik der slaw. Sprachen. Nach seiner Flucht war er 1918/19 u. a. Doz. für allg. und vergleichende Sprachwiss. an der nach Rostow (Rostov-na-Donu) evakuierten Warschauer Univ. Unter Zurücklassung seiner Bücher und Mss. (u. a. zur Vorgeschichte der Slawinen und zur vergleichenden Grammatik der nordkaukas. Sprachen), die später verbrannten, musste er i. d. F. neuerl. fliehen. Nach Aufenthalten auf der Krim und in einem Flüchtlingslager bei İstanbul suppl. er 1920–22 an der Univ. Sofia als Doz. für slaw. Philol. und vergleichende Sprachwiss. und hielt sich nach Verschlechterung der polit. Lage u. a. in Prag und in Baden bei Wien auf. 1922 wurde er, unter Ablehnung eines Rufs an die Univ. Brünn, o. Prof. für slaw. Philol. an der Univ. Wien. Dort widmete er sich bahnbrechenden Arbeiten zur Slawistik (v. a. Ur- und Altkirchenslaw.) und Kaukasiol. sowie insbes. der von ihm im Gefolge des I. Internationalen Linguistenkongresses (Den Haag, 1928) (mit-)begründeten Phonol. als neuer, die positivist. Lautlehre ersetzender Teildisziplin neben der Phonetik; er war auch Gen.sekr. der von ihm etablierten International Association for Phonology. Als Bindeglied zwischen Phonol. und Morphol. schuf T. zudem die den Lautwechsel zwischen Allomorphen beschreibende Morphonol. und führte den Begriff Sprachbund ein. Seine auch die Semiotik beeinflussenden Theorien diskutierte er u. a. mit Karl Bühler, Paul Kretschmer und Anton Pfalz, insbes. aber mit Roman Jakobson. Zusammen mit Letzterem war T. als Mitbegründer der modernen strukturalist. Sprachwiss. wohl der bedeutendste Vertreter des Prager Linguist. Zirkels, verf. jedoch auch auf formalist.-strukturalist. Methoden basierende Arbeiten zur (v. a. russ.) Literatur sowie kultur- und geschichtsphil. Schriften, in denen er als Gegenpol zum „romanogermanischen“ Eurozentrismus die kulturelle Autarkie Russlands gegenüber Europa und Asien betont, was ihn 1920 zum Mitbegründer der sog. Euras. Bewegung machte. Den Antisemitismus in Europa verurteilte T. in seinem Aufsatz „O rasizme“ (1935), der nach dem „Anschluss“ 1938 zu Hausdurchsuchungen durch die Gestapo und zur tw. Beschlagnahme seines Archivs führte, das später nur z. Tl. rückerstattet wurde bzw. verloren ging. T. starb nahezu erblindet. Er war ab 1925 k. M., ab 1930 w. M. der ÖAW; zahlreiche weitere Mitgl.schaften, u. a. Kgl. Akad. der Wiss. zu Amsterdam, Kgl. Böhm. Ges. der Wiss., School of Slavonic and East European Stud. in London, Société de Linguistique de Paris, Finn.-ugr. Ges. in Helsinki, Linguistic Society of America. Tle. seiner Korrespondenz werden am Massachusetts Inst. of Technology, Cambridge, USA, aufbewahrt.

Weitere W.: Evropa i čelovečestvo, 1920 (dt. 1922); Polab. Stud., 1929; Grundzüge der Phonol., 1939; Altkirchenslaw. Grammatik, ed. R. Jagoditsch, 1954; Dostoevskij als Künstler, 1964; N. S. T.’s Letters and Notes, ed. R. Jakobson u. a., 1975; Opera slavica minora linguistica, ed. St. Hafner u. a., 1988 (m. W.); Russland – Europa – Eurasien. Ausgewählte Schriften zur Kulturwiss., ed. F. B. Poljakov, 2005 (m. biograph. Beitrr. u. W.); Beitrr. in: Z. für slav. Philol., Caucasica, Travaux du Cercle Linguistique de Prague.
L.: Almanach Wien 88, 1938, S. 335 (m. B.); Wr. Slavist. Jb. 11, 1964 (m. B.), 23, 1977; U. Maas, Verfolgung und Auswanderung dt.sprachiger Sprachforscher 1933–45, 1, 2010 (Neubearb. online, Zugriff 27. 8. 2014); ÖAW, UA, WStLA, alle Wien.
(Ch. Liebl)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 66, 2015), S. 475f.
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