Varga, Lucie; geb. Stern Rosa (1904–1941), Historikerin

Varga Lucie, geb. Stern Rosa, Historikerin. Geb. Baden (NÖ), 21. 6. 1904; gest. Toulouse (F), 26. 4. 1941; bis 1931 mos. Tochter von Julius (Gyula) Stern und Malvine Stern, geb. Tafler (ermordet 1944), Mutter von Berta V. (geb. 1925); 1924–32 mit dem Mediziner Josef V. (1892–1944), ab 1933 mit dem Historiker und Philosophen Franz Borkenau (1900–1957) verheiratet, 1938 (Schein-)Ehe mit Robert Morin. – Nach dem Besuch der Schule von →Eugenie Schwarzwald (Matura 1923) stud. V. 1926–30 Geschichte und Kunstgeschichte an der Univ. Wien. Daneben hörte sie phil. und psycholog. Vorlesungen bei →Moritz Schlick und Karl Bühler; 1931 Diss. bei Alfons Dopsch. Anschließend unterrichtete V. an der Volkshochschule Urania. Nach ihrer Emigration nach Paris 1933 war sie Mitarb. des Historikers Lucien Febvre. 1937 wurde die Zusammenarbeit, aus der sich nach V.s Scheidung eine persönl. Beziehung entwickelt hatte, auf Betreiben von Febvres Frau beendet. I. d. F. war sie als Vertreterin und Fabrikarbeiterin sowie 1939–40 bei der Presseagentur Agence Havas tätig, ehe sie 1940 nach Südfrankreich flüchtete. V., seit ihrer Jugend Diabetikerin, erhielt wegen der kriegsbedingten Mangelversorgung und ihrer finanziellen Situation nur unregelmäßig Insulin und starb im diabet. Koma. Als erste Frau publ. V. regelmäßig in der von Febvre und Marc Bloch hrsg. Z. „Annales d’histoire économique et sociale“. Neben der Geschichte der südfranzös. Katharer im 11. und 12. Jh. befasste sie sich mit zeitgeschichtl. Themen wie der Konfrontation zwischen traditionellen Lebensformen und der Moderne, die sie unter den Aspekten Religiosität und Bekehrung, Rechtgläubigkeit und Häresie sowie Identifikation, Anpassung bzw. Widerstand in Umbruchs- und Krisenzeiten beleuchtete. Dabei bediente sie sich – im Sinne der Annales-Schule – Methoden anderer Disziplinen wie der Ethnol. In ihrem Aufsatz „Dans une vallée du Vorarlberg: d’avant-hier à aujourd’hui“ (1936) verwies sie explizit auf die method. Anregungen des poln.-engl. Sozialanthropologen Bronisław Malinowski. Sowohl hierfür als auch für die 1939 ebenfalls in den „Annales“ publ. Stud. zum Hexenglauben in Südtirol „Sorcellerie d’hier. Enquȇte dans une vallée ladine“ betrieb V. Feldforschung vor Ort und zeigte die Ablöse traditioneller Autoritäten (kath. Kirche bzw. magische Praktiken) durch neue (Nationalsozialismus bzw. Faschismus). Für die 1937 erschienene „Deutschland-Nummer“ der „Annales“ verf. sie „La genèse du national-socialisme. Notes d’analyse sociale“. Darin ermittelte sie anhand der Lebensläufe von NSDAP-Anhängern die „soziale Ehre“ (ein bewusster Rückgriff auf nationalsozialist. Terminol.), d. h. die Angst vor sozialem Statusverlust, als verbindendes biograph. Element. Der Erstkontakt und die Aufnahme in die Partei seien als religiöse Bekehrung bzw. Initiation erlebt worden. Anhand dieser Aussagen definierte V. den Nationalsozialismus als „politische Religion“, dessen Anziehungskraft v. a. auf symbol. und emotionalen Dimensionen beruhe. Diese Aspekte behandelte sie auch in dem in der Ztg. „L’Œuvre“ im Mai 1938 veröff. Fortsetzungsroman „Comment se fabrique l’hitlérien 100 %“. Zur Benennung der von ihr untersuchten Phänomene verwendete sie nicht den von der Annales-Schule geprägten Begriff Mentalität, sondern verschiedene Formulierungen wie die „unsichtbaren Autoritäten“, die in Wechselwirkung mit den „sichtbaren“, d. h. materiellen Autoritäten standen. Aufgrund ihres frühen Tods blieb V.s Werk fragmentar. Dies zeigt sich inhaltl. an der häufigen Postulierung von Thesen sowie an Verweisen auf noch zu klärende Punkte; stilist. verwendet sie Fragesätze und direkte Rede und spricht die Leser explizit an. Während ihre Thesen zu den Katharern vielfach überholt sind bzw. sich als unzutreffend erwiesen haben (etwa die Verwandtschaft mit anderen häret. Strömungen oder der Teufelskult der Katharer), haben ihre Analysen zur religiösen Natur von Nationalsozialismus und Faschismus nach wie vor Gültigkeit.

Weitere W.: s. L. V., Zeitenwende.
L.: L. V. Zeitenwende, ed. P. Schöttler, 1991 (m. B. u. W.); ders., in: WerkstattGeschichte 7, 1994, S. 63ff.; ders., in: Der Nationalsozialismus als polit. Religion, ed. M. Ley – J. H. Schoeps, 1997, S. 186ff.; Wissenschafterinnen in und aus Österr., ed. B. Keintzel – I. Korotin, 2002 (m. B.); H. Loewy, in: „Hast du meine Alpen gesehen?“ Eine jüd. Beziehungsgeschichte, ed. ders. – G. Milchram, Wien – Hohenems 2009, S. 218ff. (Kat., m. B.); I. Runggaldier Moroder, in: Quart Heft für Kultur Tirol 19, 2012, S. 37ff.; UA, Wien.
(U. Denk)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 15 (Lfg. 68, 2017), S. 181f.
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