Wegscheider, Rudolf (1859–1935), Chemiker

Wegscheider Rudolf, Chemiker. Geb. Großbecskerek, Ungarn (Zrenjanin, SRB), 8. 10. 1859; gest. Wien, 18. 1. 1935. Sohn von →Johann W. und Maria W., geb. Plank; verheiratet mit Mathilde Margarethe W., geb. Friedmann (geb. 1882; mos.), die 1941 ein Opfer des Holocaust wurde. – Nach Absolv. des Realgymn. in Linz und des Staatsgymn. in Salzburg stud. W. ab 1877 Chemie an der Univ. Wien, v. a. bei →Ludwig Barth z. Barthenau; 1882 Dr. phil. W. befasste sich zunächst mit Pflanzen-Alkaloiden. Dabei gelang ihm nicht nur die erste künstl. Herstellung des bekannten Riechstoffs Piperonal (Heliotropin), sondern auch die Klärung der Konstitution der Opian- sowie der Hemipinsäure. W. zeigte, dass die Opiansäure die Fähigkeit zur Bildung zweier verschiedener Estertypen besitzt, wofür in der Literatur bis dahin kein vergleichbares Beispiel vorlag. 1883 arbeitete er bei Hans Heinrich Landolt in Berlin, der sich zu dieser Zeit intensiv mit Messungen von Dampfdrucken, Schmelzpunkten und Fragen der Kinetik anorgan. Reaktionen befasste. Für kurze Zeit war W. in einer dt. Schwefelsäurefabrik tätig. 1886 kehrte er als Ass. des I. Chem. Laboratoriums nach Wien zurück, 1891 erfolgte seine Zulassung als Priv.Doz. für Chemie an der Univ. Wien, 1897 für theoret. Chemie an der TH. 1899 ao. Prof., 1902 o. Prof. und Vorstand des I. Chem. Laboratoriums an der Univ. Wien, fungierte er 1913/14 als Dekan der phil. Fak. 1931 trat er i. d. R. W. gilt als Wegbereiter der physikal. Chemie in Österr. und zugleich als einer der Pioniere der Erforschung der Kinetik organ. Reaktionen. Er erkannte die Dissoziation zweiprotoniger Säuren, wofür ihm 1905 der Ignaz L. Lieben-Preis der k. Akad. der Wiss. in Wien zuerkannt wurde, und die Veresterung unsymmetr. Dicarbonsäuren. Auch ging er der Frage der sterischen Hinderung bei der Esterbildung nach. W. untersuchte Säure-Basen-Indikatoren, das Phänomen der Chemolumineszenz sowie die Reaktionen von starken Elektrolyten. Er erkannte als Erster das Prinzip der mikroskop. Reversibilität und fand eine Gesetzmäßigkeit zwischen der Konstitution organ. Säuren und ihrer „Affinitätsgröße“, einem Pendant zur heutigen Säurekonstante. W. konnte schließl. die Verseifungsreaktion der Glyzeride durch den stufenweisen Verlauf der Reaktion erklären und entwickelte Formeln für die Beziehungen zwischen den Lösungs- und den Verdünnungswärmen. Darüber hinaus ist ihm die Initiative zum Neubau des Inst.gebäudes für Chemie der Univ. Wien zu verdanken. W. unternahm in seiner Freizeit schwierige Bergtouren in den Westalpen und war zeitweise Seilgefährte des Mediziners und Alpinisten Otto Zsigmondy. Darüber hinaus fungierte er 1894–99 als Ausschussmitgl. der Sektion Austria des Dt. und Österr. Alpenver.; 1902 k. M., 1908 w. M. der k. Akad. der Wiss. in Wien, 1904–29 Präs., danach Ehrenpräs. des Ver. Österr. Chemiker. Ab 1917 war er k. M. der Akad. der Wiss. in Göttingen, ab 1932 Mitgl. der Dt. Akad. der Naturforscher Leopoldina. 1931 erhielt er das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österr.; 1920 HR.

W.: s. Eisenberg 2; Poggendorff.
L.: NFP, 7. 6. 1902; WZ, 19. 1. 1935; Almanach Wien 85, 1936, S. 231ff. (m. B.); Eisenberg 2 (m. W.); Jb. der Wr. Ges.; Poggendorff 4–7a (m. W.); H. Mark, in: Z. für Elektrochemie 41, 1935, S. 127f. (m. B.); H. Michl, Geschichte des Stud.faches Chemie an der Univ. Wien …, phil. Diss. Wien, 1950, S. 187ff., 394; E. Abel, in: Österr. Naturforscher, Ärzte und Techniker, ed. F. Knoll, 1957, S. 55ff. (m. B.); A. Kernbauer, Das Fach Chemie an der phil. Fak. der Univ. Graz, 1985, s. Reg.; G. Pohl u. a., in: Chemie in Österr., ed. P. Markl, 1997, S. 115ff.; R. W. Soukup, in: Die wiss. Welt von gestern, ed. R. W. Soukup, 2004, S. 116ff. (m. B.); UA, Wien (m. B.).
(R. W. Soukup)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 41
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