Weininger, Otto (1880–1903), Philosoph

Weininger Otto, Philosoph. Geb. Wien, 3. 4. 1880; gest. ebd., 4. 10. 1903 (Suizid); bis 1902 mos., dann evang. AB. Sohn des Goldschmieds Leopold (Leon) W. (geb. Wien, 31. 1. 1854; gest. 1. 4. 1922), der u. a. Aufträge vom k. Hof in Wien erhielt, sowie der Adelheid W., geb. Frey (geb. Wien, 10. 4. 1857). – W. besuchte die Unterstufe des Franz-Joseph-Gymn. sowie das Piaristengymn., wo er 1898 maturierte. Anschließend stud. er im Hauptfach Phil. bei →Friedrich Jodl an der Univ. Wien, besuchte aber auch mathemat., naturwiss. und med. Lehrveranstaltungen. Er war Gründungsmitgl. des Sozialwiss. Bildungsver. und ab 1898 aktives Mitgl. der Phil. Ges. an der Univ. Wien. Deren Obmann →Alois Höfler beteiligte neben anderen Studenten der Ges. auch W. an den Korrekturarbeiten zu jenem Bd., den er für die von der kgl. Preuß. Akad. der Wiss. besorgte Neuausg. der Werke Immanuel Kants vorbereitete. W. referierte 1900 auf dem IVème Congrès International de Psychologie in Paris und gründete 1901 die Studentenverbindung Dionysia. 1902 erfolgte seine Prom. zum Dr. phil. mit der Diss. „Eros und Psyche“, deren Ms. er zur Wahrung der Prioritätsrechte schon im Jahr davor bei der k. Akad. der Wiss. in Wien hinterlegt hatte. Nach Stud.abschluss lebte W. als Privatier. Im Mai 1903 erschien seine Untersuchung über die Grundprinzipien der sexuellen Variationen beim Menschen, „Geschlecht und Charakter“. Sie gab vor, eine krit. Analyse der menschl. Sexualität in all ihren Dimensionen zu bieten: biolog., psycholog. und eth. ausgerichtet an der Idee, dass alle Menschen, wenn auch in stark unterschiedl. Grad, bisexuell seien. W. gründete seine Behauptung auf Spekulationen, wonach sexuelle Unterschiede durch das Verhältnis von männl. zu weibl. „Plasma“ im Individuum verursacht würden. Dies erkläre, weshalb Frauen betont männl. bzw. Männer weibl. körperl. und psych. Eigenschaften aufweisen könnten. Homosexualität entstehe als natürl. Phänomen durch ein plasmat. Ungleichgewicht. Auch die von W. behauptete Unfähigkeit von Frauen zu abstraktem Denken und somit jener Art von Selbstkritik, die moral. Handeln auf Basis der vernünftigen Pflicht (Kant) ermögliche, basiert auf dieser These. Der polit. Kampf um Frauenemanzipation erschien W. in Wirklichkeit als ein Ringen um eine männl. Seele. Dies sei problemat., da die überwiegende Mehrheit der Männer, repräsentiert vornehml. durch Juden, daran scheitere, den Anforderungen der Vernunft gerecht zu werden. Dies beweise die Art, wie Männer Frauen üblicherweise sexuell ausnützten. Zudem bringe die Freude am sexuellen Besitz einer Jungfrau Männer dazu, ein Bild von makelloser Reinheit auf sie zu projizieren, das in Wirklichkeit gänzl. im Konflikt mit ihrem bisexuellen Charakter stehe. Das Ergebnis sei Hysterie. Während W. vielleicht als Erster außerhalb von →Sigmund Freuds Kreis die Bedeutung der Entdeckung der Hysterie erkannt hatte, hielt Freud W.s Arbeit jedoch für zu spekulativ. W. präsentierte ein Ideal eines myst. Verhältnisses zwischen Mann und Frau, basierend auf männl. Mut und Selbstverleugnung. „Geschlecht und Charakter“ sollte moral. schwache Männer, insbes. Juden, ermutigen, indem es betonte, wie ihr gewöhnl. Sexualverhalten (im Gegensatz zu jenem der Frau) durch einen selbstkrit. Willensakt transzendiert werden könne. Von Beginn seines Erscheinens an rief das Buch großes Interesse hervor, zunächst bei Tolstojanern, in med. Debatten über Sexualität sowie unter Sozialreformern, doch rasch fiel es in die Hände von Misogynen und Antisemiten, deren Argumente es bis heute speist. W.s fünf Monate darauf erfolgter Selbstmord im Sterbehaus Beethovens entfachte eine Kontroverse, ob es sich bei ihm um Genie oder Wahnsinn handle. Das Thema beherrschte rasch die Diskussionen zwischen moral. Idealisten und frauenfeindl. Rassisten und überschattete die ernsthafte Forschung zur Entstehung und Bedeutung seines Gedankens im Kontext der Zeit. W.s Leben und Werk entfaltete im Verlauf des 20. Jh. eine außerordentl. breite Anziehungskraft (1926 lag „Geschlecht und Charakter“ schon in 27 Aufl. vor) und wurde von so heterogenen Persönlichkeiten wie Dietrich Eckhart, →Adolf Hitler, August Strindberg, Ludwig Wittgenstein, Arnold Schönberg, James Joyce oder Gertrude Stein rezipiert. Posthum kamen eine Smlg. von Essays unterschiedl. Länge und Qualität, „Über die letzten Dinge“ (1904), und das von Artur Gerber hrsg. „Taschenbuch“, das auch Briefe an Letzteren enthält (1919), heraus. Eine krit. Online-Ausg. der Werke und Briefe, inklusive eines umfassenden Materialbd. zu W., erschien 2010.

Weitere W.: Eros und Psyche. Stud. und Briefe 1899–1902, ed. H. Rodlauer, 1990.
L.: Neues Wiener Journal, 25. 10. 1903; E. Lucka, O. W., 1905; H. Swoboda, O. W.s Tod, 2. Aufl. 1923; D. Abrahamsen, The Mind and Death of a Genius, 1946 (m. B.); J. Le Rider, Der Fall O. W., 1985 (m. B.); H. Rodlauer, in: Anzeiger der phil.-hist. Kl. der ÖAW 124, 1987, S. 110ff.; St. Zweig, Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge … 1902–42, ed. K. Beck, 1990, S. 298; Ch. Sengoopta, in: History of Science 30, 1992, S. 249ff.; W. Hirsch, Eine unbescheidene Charakterol., 1997; evang. Pfarre AB Wien-Innere Stadt.
(A. Janik)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 70f.
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