Wieser, Friedrich Frh. von (1851–1926), Nationalökonom und Soziologe

Wieser Friedrich Frh. von, Nationalökonom und Soziologe. Geb. Wien, 10. 7. 1851; gest. Brunnwinkl (St. Gilgen, Sbg.), 22. 7. 1926 (ehrenhalber gewidmetes Grab: Friedhof Dornbach, Wien); röm.-kath. Sohn von HR Leopold Frh. v. W. (geb. Petrinja, HR, 26. 6. 1819; gest. Wien, 11. 4. 1902), 1858 geadelter und 1889 in den erbl. Frh.stand erhobener Sektionschef und 1879 Interimsleiter des Rechnungshofs, und Mathilde Edle v. W., geb. v. Schulheim, Bruder u. a. von →Joseph Frh. v. Wieser und dem Maler Hyacinth Ritter v. W. (1848–1878), Schwager von →Eugen v. Böhm-Bawerk, Vater von →Wolfgang Frh. v. Wieser; ab 1886 mit Marianne Freifrau v. W., geb. Wolf, verheiratet. – Während des Besuchs des Schottengymn. in Wien v. a. an Geschichte und Soziol., insbes. an den Ideen Herbert Spencers, interessiert, stud. W. 1868–72 an der Univ. Wien Rechtswiss. und trat 1872 in den Dienst des nö. Finanzamts ein. Hatten W. seine Lehrer an der Univ., insbes. →Lorenz v. Stein, gleichgültig gelassen, beeindruckte ihn 1872 die Lektüre von →Karl Mengers „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ zutiefst. W. prom. 1875 und erhielt ein Stipendium für eine zweijährige Stud.reise. Er erwarb in Heidelberg (Karl Knies), Leipzig (Wilhelm Roscher) und Jena (Bruno Hildebrand) Vertrautheit mit der Dt. Hist. Schule. 1884 habil. er sich mit „Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirthschaftlichen Werthes“ und wurde im selben Jahr als ao. Prof. an die dt. Univ. Prag berufen. Ab 1889 Ordinarius und 1901/02 Rektor ders., kehrte W. 1903 nach Wien zurück und trat die Lehrstuhlnachfolge Mengers an. Für drei Stud.jahre stand er als Dekan der Rechts- und Staatswiss. Fak. vor. Nach einer kurzen Unterbrechung seiner akadem. Arbeit als Mitgl. des HH (Ernennung auf Lebenszeit 1917) und als in der Regierung weitgehend isolierter Handelsminister 1917–18 wechselte er 1919 wieder an die Univ. Wien. Seit 1922 emer., lehrte W. bis 1926 als Hon.prof. Zusammen mit seinem Schulfreund Böhm-Bawerk zeichnete er hauptverantwortl. für die Weiterentwicklung und internationale Verbreitung der auf Menger zurückgehenden Österr. Schule der Nationalökonomie. Trotz seines Einflusses auf Friedrich Hayek, →Joseph Schumpeter und andere ist die Stellung seines Forschungsprogramms, das mit W.s Lieblingsstudenten und Lehrstuhlnachfolger in Wien, Hans Mayer, weitgehend erlosch, umstritten. Kritiker in Ludwig Mises’ Tradition werfen W. mangelndes Verständnis des subjektivist. Kerns der Österr. Schule und zu ausgeprägten Fokus auf Gleichgewichtsanalyse vor. Sie verorten ihn nahe an der Lausanner Schule (Leon Walras) oder als Ordoliberalen. Tatsächl. ergibt sich „Der natürliche Werth“ (1889, engl. „Natural Value“, 1893) nach W. aus einem Gleichgewichtssystem, in dem alle Individuen gleiche Kaufkraft besitzen. Jedenfalls prägte W. den Terminus „Grenznutzen“ und ermöglichte in seinem Lösungsversuch des Zurechnungsproblems mit seiner Opportunitätskostenlehre (gegen Alfred Marshall) die konsequentere Ausweitung von Mengers subjektiver Theorie der Bewertungen auf Produktionsfaktoren. Ideen →Ernst Machs und Mengers fortführend, nutzte er Methoden der Isolation und Variation. Zusammen mit Max Weber schon zuvor ein Brückenbauer zwischen Ökonomie und Soziol., wandte sich W. zuletzt vermehrt dem Einfluss von Kultur, Institutionen sowie jurist. und sozialen Normen auf den Wirtschaftsprozess zu. Betont sein Gesetz der kleinen Zahl noch deskriptiv den Einfluss einzelner Persönlichkeiten, treten in „Das Gesetz der Macht“ (1926, engl. „The Law of Power“, 1983) auch faschist. Tendenzen hervor. W. gilt als persönl. integrer, wenn auch phasenweise resignierter Charakter, als hochorigineller Denker und stilist. ausgefeilter Schreiber. Seiner künstler. Ader ging er als Präs. der Ges. zur Förderung dt. Wiss., Kunst und Literatur in Böhmen nach. 1921 erhielt er das Ehrendoktorat der Univ. Wien.

Weitere W. (s. auch Hayek; The History of Economic Thought Website): The Austrian School and the Theory of Value, in: Economic Journal 1, 1891; Recht und Macht, 1910; Theorie der gesellschaftl. Wirtschaft, 1914, engl. 1927; Österreichs Ende, 1919; Über das Verhältnis der Kosten zum Wert, in: Gesammelte Abhh., ed. F. A. v. Hayek, 1929.
L.: E. Schams, in: Z. für die gesamte Staatswiss. 81, 1926, S. 432ff.; F. Hayek, in: Jbb. für Nationalökonomie und Statistik 125, 1926, S. 513ff. (m. W.); H. Higgs, in: Economica 20, 1927, S. 150ff.; A. Menzel, F. W. als Soziologe, 1927; E. Streissler, in: Die Wr. Schule der Nationalökonomie, ed. N. Leser, 1986, S. 59ff.; E. Craver, in: History of Political Economy 18, 1986, S. 1ff.; H. Hax, Vademecum zu einem Klassiker der Österr. Schule, 1999; J. G. Hülsmann, Mises, 2007, s. Reg. (m. B.); H. Klausinger, in: History of Political Economy 47, 2015, S. 271ff.; N. Tokumaru, in: Journal of the History of Economic Thought 37, 2015, S. 583ff.; The History of Economic Thought Website (m. B. u. W., Zugriff 31. 8. 2019); Pfarre St. Gilgen, Sbg.
(A. Linsbichler)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 193f.
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