Winter, Lev (Leo) (1876–1935), Politiker, Jurist und Journalist

Winter Lev (Leo), Politiker, Jurist und Journalist. Geb. Hrob, Böhmen (Hroby, CZ), 26. 1. 1876; gest. Gräfenberk, Tschechoslowakei (Lázně Jeseník, CZ), 29. 8. 1935; mos., ab 1918 konfessionslos. Sohn des Mühlenpächters und Kleinbauern Markus W. und der Cäcilie W., geb. Epsteinová, Bruder von →Gustav W. und Arnošt W. (s. u.). – W. absolv. nach der Matura in Tabor ein Jusstud. an der tschech. Univ. Prag; 1899 Dr. iur. Er beteiligte sich am sozialist. Zweig der tschech. student. Fortschrittsbewegung, ab Gründung 1896 an der Dělnická akad., ab 1897 an der tschech. Z. „Akademie“ und trat 1897 der Sozialdemokratie bei. Als Mitarb. in den Kanzleien von →Eduard Koerner und →Vladimír Srb entwickelte er sich zum Fachmann für Arbeits- und Sozialrecht sowie für das Kartellwesen. Einer um 1902/03 geplanten Habil. standen u. a. polit. und antisemit. Widerstände entgegen, so dass er in Kgl. Weinberge eine eigene Kanzlei eröffnete. Als RR-Abg. (1907–18) gehörte er dem tschech. sozialdemokrat. Klubvorstand an und leitete ab 1917 den sozialpolit. Parlamentsausschuss. Ab 1907 war W. zudem Mitgl. des Parteiexekutivausschusses und Red. des Parteibl. „Právo lidu“ sowie 1907–11 Geschäftsführer des Parteipresseausschusses. Der Exponent des nationalen Parteiflügels und Kritiker des Austromarxismus praktizierte eine pragmat. Zusammenarbeit mit nichtsozialist. Parteien, trat bei sozialdemokrat. Kongressen in Dtld. auf und war an der Neuübers. des „Kapitals“ von Karl Marx ins Tschech. beteiligt. 1913/14 red. er zudem den „Čechoslavischen Sozialdemokraten“. Als Off. im 1. Weltkrieg war er 1915/16 Verteidiger in Kriegsgerichtsprozessen. W. gehörte 1918 dem tschechoslowak. Nationalausschuss und von 1918 bis zu seinem Tod der tschechoslowak. Nationalversmlg. an. Der versierte Versicherungsfachmann galt als Architekt der tschechoslowak. Sozialgesetze. 1918–20 und 1925–26 verantwortete er als Minister für Sozialfürsorge die Gesetze über den Achtstundentag sowie zur Arbeitslosen-, Arbeitsunfähigkeits-, Kranken- und Altersversicherung. 1925/26 verwaltete W. kurzzeitig auch das Unifikationsmin. Der Gründer und Präs. (1926–35) des Sociální ústav ČSR in Prag war zudem ab 1927 Vors. des Internationalen Rats der Krankenkassen und ab 1930 Vors. der tschechoslowak. Sektion der Interparlamentar. Union. Das Vorstandsmitgl. des Zentralverbands der tschech. landwirtschaftl. Genossenschaften gehörte ab 1931 auch der Exekutive der Sozialist. Arbeiter-Internationale an. Sein Bruder, der Funktionär, Politiker und Ing. Arnošt (Ernst) W. (geb. Neuhof, Böhmen / Nové Dvory, CZ, 24. 12. 1880; gest. KZ Auschwitz, Dt. Reich/PL, vermutl. 28. 10. 1944), schloss sich als Gymnasiast in Tabor 1895 der Sozialdemokratie an, absolv. die dt. TH in Prag und red. polit. Z. wie 1901–04 den „Studentský sborník“ und 1905–14 „Naše doba“. Der Bahn- und Bauing. gehörte ab 1912 dem Kreis- und dem Gauvorstand der Sozialdemokratie in Pilsen an. 1908–39 stieg der mehrfache Patentinhaber und Funktionär der von ihm 1912 mitbegründeten Eisenbahnergewerkschaft bei den Staatsbahnen zum stellv. Regionaldir. in Pilsen auf. Arnošt W. wirkte 1919–38 auch als Stadtrat und stellv. Bgm. von Plzeň und 1936–39 als Präs. des Westböhm. Nationalökonom. Beirats. 1932–39 vertrat er die tschechoslowak. Sozialdemokratie als Senator in der Nationalversmlg. 1942 wurde er nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz deportiert.

W. (s. auch Luft; Sociální revue 7, 1926, Nr. 1): Rukověť živnostenského soudce, 1901 (gem. m. A. Meissner); Kartely, 1902; Rakouská politika celní, 1903; Práva a povinnosti nájemníků, 1903 (gem. m. Meissner); Úrazové pojištění dělnické dle práva rakouského, 1904; Maloživnostníci a sociální demokracie, 1907; Dělnické zákonodárství Rakouské, in: Česká politika 4, ed. Z. Tobolka, 1911; Obstrukce a § 14, 1913; O osnově zákona sociálním pojištění v Československé republice, 1923 (französ. 1925). – Arnošt W.: Obrázky ze země inkvisice, 1914; Národohospodářské nauky socialismu, 1932; Co jsem viděl v SSSR, 1936.
L. (tw. auch für Arnošt W.): Adlgasser; Enc. Jud.; Freund, 1907 (m. B.); Luft (m. W.); Masaryk; Otto; Universal Jew. Enc.; Wininger; Sociální revue 7, 1926, Nr. 1, S. 1ff. (m. W.); Sociální ústav ČSR památce svého zakladatele a předsedy dra L. W., 1935; Idea československého státu 2, 1936, S. 171ff.; F. Svátek, in: Allemands, Juifs et Tchèques à Prague, ed. M. Godé, 1996, S. 331ff.; J. Rákosník, in: Sozial-reformator. Denken in den böhm. Ländern 1848–1914, ed. L. Fasora, 2010, S. 215ff.; Z. R. Nešpor u. a., Slovník českých sociologů, 2013; J. Tomeš, Průkopníci a pokračovatelé, 3. Aufl. 2013, S. 213f. (m. B.); IKG Radenín, CZ. – Arnošt W.: K. Řeháček, Plzeň v národním shromáždění, 2012, S. 86f.; Dějiny města Plzně 3, 2018, s. Reg.
(R. Luft)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 261f.
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