Winter, Max (Alexander Stephan Julius) (1870–1937), Journalist, Funktionär und Politiker

Winter Max (Alexander Stephan Julius), Journalist, Funktionär und Politiker. Geb. Tárnok (H), 9. 1. 1870; gest. Hollywood, CA (USA), 10. oder 11. 7. 1937 (begraben: Wien); röm.-kath., ab 1872 evang. HB, später konfessionslos. Sohn des Beamten bei der Südbahn Julius Josef W. (geb. 1839; gest. April 1907) und der Modistin Hildegard W., geb. Schnideritsch (gest. September 1883); ab 1919 verheiratet mit Josefine Lipa, geb. Rieger (geb. Wien, 27. 7. 1874). – Die Familie übersiedelte 1873 nach Wien, wo W. in ärml. Verhältnissen aufwuchs. Er besuchte das Gymn., das er jedoch 1885 abbrach. Bis 1887 absolv. er eine Kaufmannslehre, besuchte die Handelsschule und hörte Vorlesungen in Phil., Geschichte und Nationalökonomie an der Univ. Wien. Daneben verf. er 1886–90 mehr als 200 unveröff. Ged. Seine journalist. Laufbahn begann W. als Mitarb. einer Wr. Ztg.korrespondenz, im Frühjahr 1893 trat er in die Red. des neu gegr. „Neuen Wiener Journals“ ein. Dort erregten seine Reportagen über das unterird. Wien und eine Artikelserie über hungernde Wr. Kinder im Herbst 1894 die Aufmerksamkeit von →Viktor Adler und →Friedrich Austerlitz, die ihn zur Mitarb. an der „Arbeiter-Zeitung“ einluden. Hier war er an der Seite von →Jakob Reumann und →Emil Kralik für das Lokalressort tätig, das er nach Kraliks Tod (1906) jahrelang leitete. Bereits 1895 erschien seine erste Sozialreportage in der „Arbeiter-Zeitung“, im Lauf der Jahrzehnte wurden ihm mehr als 1.500 Reportagen zugeschrieben. Seine „Streifungen“, unterstützt durch örtl. Funktionäre und gewerkschaftl. Vertrauensmänner, führten ihn inkognito zu verarmten Heim- und Holzarbeitern, in Bergwerke, Ind.betriebe, wobei er die Kinderarbeit bes. hart verurteilte. Seine Reportagen zeichnete stets eine genaue Kenntnis der wirtschaftl., sozialen und hygien. Sachverhalte aus. Sie richteten den Fokus auf die vielfach katastrophale Lage der Arbeiter. Die sprachl. Ausdrucksweise (Zitate, Umgangssprache) sollte Betroffenheit und Identifikation auslösen und nach dem Vorbild des Muckraker-Journalismus sozialpolit. Reformen anstoßen. Ab 1902 wandte sich W. verstärkt dem großstädt. Elend in Wien zu („Im unterirdischen Wien“, 1905, Neuaufl. 2017). Für die Berr., die als Ser. in der „Arbeiter-Zeitung“ erschienen, nächtigte er in der Wärmestube, im Männerheim, im Gefängnis, suchte Obdachlose auf bzw. wurde „Kanalstrotter“. Im 1. Weltkrieg veröff. er in der Ztg. auch „Stadtrundgänge“ durch Berlin, 1915/16 publ. er den Doppelbd. „Der österreichisch-ungarische Krieg in Feldpostbriefen“. Viele seiner Reportagen, die für andere zum Vorbild wurden, erschienen auch in lokalen Partei-, Gewerkschafts-, Frauen- und Bildungs-Z. und in Auswahl als Bücher. Ab 1910 wirkte er mit Anton Tesarek als Organisator der Kinderfreunde in Wien und NÖ, 1917 initiierte er den Reichsver. Kinderfreunde (1922 als Parteiorganisation anerkannt) und fungierte 1917–33 als dessen erster Reichsobmann. Sein Augenmerk richtete er dabei auf die Pädagogik. Im Sommer 1919 organisierte er mit →Otto Felix Kanitz im Waldviertler Gmünd die erste Kinderkolonie, aus der das Konzept einer Gemeinschaftserziehung von Arbeiterkindern, Mittelschülern und Studenten entstand, 1922 erfolgte der Zusammenschluss der Kinderfreunde mit dem Ver. Freie Schule. In zahlreichen Vorträgen formulierten W. und seine Mitstreiter Grundforderungen an eine gewaltfreie, die seel. und körperl. Entfaltung und den Gemeinschaftsgeist fördernde Erziehung. Ihm wird auch die Durchsetzung des Grußes „Freundschaft!“ in den Jugendorganisationen und schließl. in der Gesamtpartei zugeschrieben. W. setzte „der Anarchie in der Aufzucht“ die umfassende Organisation der Erziehung entgegen, die Schule und Eltern mit einschloss. Er selbst verf. zahlreiche Märchen, Erz. und Theaterstücke, die in Buchform oder in sozialist. Kinder- und Jugend-Z. erschienen. 1925–30 stand W. an der Spitze der Sozialist. Erziehungs-Internationale. Polit. fungierte er 1911–18 für den Klub der dt. Sozialdemokraten als Abg. zum RR, war 1919–20 Vizebgm. und bis 1923 Stadtrat von Wien. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten Wohnbau, soziale Fürsorge und Erziehung. Auf ihn gehen zahlreiche Initiativen im Schulwesen, Wohnbau und in der Fürsorge zurück. 1925–33 gehörte er als Vertreter Wiens dem Bundesrat an. Daneben red. W. 1923–27 die Frauen-Z. „Die Unzufriedene“ mit einer Aufl. von 100.000 Exemplaren. In seinem utop. Roman „Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025“ (1929) entwarf er die Vision einer sozialist. Zukunftsstadt, in der die Bürger dank umfassender kommunaler Leistungen abgesichert waren. Auf Einladung der sozialist. Partei der USA reiste W. Mitte Februar 1934 in die Vereinigten Staaten, wo ein Hilfskomitee für die verfolgten Februarkämpfer seinen Namen erhielt, und kritisierte hier in Vorträgen scharf die Unterdrückung durch die Regierung Dollfuß. I. d. F. wurde sein Vermögen beschlagnahmt und ihm die österr. Staatsbürgerschaft entzogen. Im August übersiedelte er nach Los Angeles und verf. Artikel für dt.sprachige Bll. in Europa und den USA, Drehbücher für Kinderfilme und Arbeiten für die Werbebranche. Sein letztes (unpubl.) Buchprojekt trug den Titel „Ich bewundere Amerika“. Im Oktober 1935 gründete er eine eigene Korrespondenz (Californ., später Cosmopolit. Correspondenz), die jedoch keine Einnahmen abwarf, weshalb er vermehrt auf die Unterstützung von Freunden angewiesen war. Ein Teilnachlass befindet sich in der Wienbibl. im Rathaus.

Weitere W.: s. Riesenfellner.
L.: AZ, 1. 3. 1917, 9. 1. 1930, 9. 1. 1946, 12. 7. 1959, 9. 1. 1970; WZ, 10. 7. 1987 (m. B.); Adlgasser; Bolbecher–Kaiser; Czeike; Hdb. der Emigration; Der Morgen 28, 1937, Nr. 29, S. 4; A. Tesarek, in: Werk und Widerhall, ed. N. Leser, 1964, S. 443ff. (m. B.); A. Magaziner, Die Wegbereiter, 1975, S. 132ff.; E. Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus, 1981, s. Reg.; 75 Jahre Kinderfreunde 1908–83, ed. J. Bindel, 1983, S. 25ff., 243ff.; St. Riesenfellner, Der Sozialreporter: M. W. …, 1987 (m. W.); G. Selbherr, M. W. …, phil. DA Wien, 1995; M. Houska, Journalismus der Sinne und des Sinns, phil. DA Wien, 2003; M. Winter, „Die Steigeisen der Kopflaus“, ed. T. Korosa, 2012, S. 213ff.; Expeditionen ins dunkelste Wien, ed. H. Haas, 3. Aufl. 2018, S. 9ff.; Website Kinderfreunde (Zugriff 10. 9. 2019); Website Das rote Wien (Zugriff 10. 9. 2019); AdR, Wien.
(Th. Venus)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 262f.
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