Wirth, Max (Maximilian Gottlieb) (1822–1900), Journalist und Ökonom

Wirth Max (Maximilian Gottlieb), Journalist und Ökonom. Geb. Breslau, Preußen (Wrocław, PL), 27. 1. 1822; gest. Wien, 18. 7. 1900; evang. AB. Sohn des Rechtsanwalts, Schriftstellers und Abg. zum Frankfurter Parlament Johann Georg August W. (geb. Hof, 20. 11. 1798; gest. Frankfurt, Freie Stadt / Frankfurt am Main, D, 26. 7. 1848) und von Regina W. (geb. 1792; gest. Bern, CH, 17. 5. 1871), Bruder des Politikers Franz Ulpian W. (geb. Bayreuth, Bayern/D, 6. 7. 1826; gest. Frankfurt, 16. 5. 1897), Vater u. a. des Journalisten Joseph Carl W. (geb. 22. 11. 1884; gest. 28. 3. 1959); ab 1870 verheiratet mit der Schriftstellerin Bettina W., geb. Greiner (geb. München, Bayern/D, 7. 2. 1849; gest. Wien, 23. 3. 1926). – W. besuchte das Gymn. in Bayreuth, München und Zweibrücken, 1839 das dt.sprachige philolog. Seminar der theol. Fak. Straßburg. 1839–43 stud. er Rechtswiss. an der Univ. Heidelberg, sein Interesse galt aber bald den Staatswiss. sowie der Nationalökonomie und er wurde Schüler von Karl Heinrich Rau. Großen Einfluss auf seine nationalökonom. Anschauungen übten weiters Frédéric Bastiat, John Stuart Mill und Henry Charles Carey aus. Mit seinem Vater kam er 1848 nach Frankfurt und arbeitete im Stenographenbüro der Nationalversmlg., 1849–51 im Stenographenbüro des LT in Hannover. Gem. mit seinem Bruder schloss er sich noch in Frankfurt dem Freihandelsver. an, wurde Mitarb. des „Deutschen Volkswirths“, leitete 1852 die Red. der „Westfälischen Zeitung“, musste diese aber nach Beschwerden der preuß. Regierung nach einem Jahr niederlegen und übernahm bis 1856 die Red. der „Mittelrheinischen Zeitung“ in Wiesbaden. Danach kehrte er nach Frankfurt zurück und führte für ein Jahr die Red. der neu gegr. „Frankfurter Zeitung“. Im selben Jahr rief er zusammen mit seinem Bruder das Wochenbl. „Der Arbeitgeber“ ins Leben, das u. a. für Gewerbefreiheit und arbeitsstatist. Nachweise eintrat, um so den Arbeitsmarkt besser zu regulieren, und sich als Forum volkswirtschaftl. Aufklärung verstand, sowie das erste dt. Patentbüro. Ab Mitte der 1850er-Jahre wandte sich W. immer mehr der Nationalökonomie bzw. der Statistik zu und verf. das vierbändige Werk „Grundzüge der National-Oekonomie“ (1856–73, mehrere Aufl., Nachdruck 2016–17), das trotz seiner weiten Verbreitung von führenden Ökonomen als wenig originell und gründl. sowie eklekt. kritisiert wurde. Ideolog. stand W. zwischen der freihändler. Richtung und sozialpolit. Bestrebungen. Eine weiterreichende Sozialpolitik lehnte er ebenso ab wie klass. sozialist. Forderungen (Beschränkung der Arbeitszeit, Mindestlohn). Die große Krise von 1857 beschrieb er in der journalist. gehaltenen „Geschichte der Handelskrisen“, die in einer Neuaufl. 1874 um die Darstellung der Krise von 1873 erw. wurde (4. Aufl. 1890). W. teilte mit Karl Marx die Auffassung, dass Krisen eine unvermeidl. Folge des Kapitalismus seien, aber im Gegensatz zu jenem versuchte er jene untrügl. Anzeichen herauszuarbeiten, die das Heraufziehen einer solchen signalisierten, um deren Schäden möglichst gering zu halten. 1859 konstituierte sich der Dt. Nationalver., dessen Vorstand W. angehörte. Er verf. dazu die Rechtfertigungsschrift „Die Deutsche Nationaleinheit in ihrer volkswirthschaftlichen, geistigen und politischen Entwickelung …“, die einen umfassenden Rückblick auf das Ringen um die dt. Einheit zu geben versuchte. In der „Deutschen Geschichte von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart“ (1862) sollte erstmals die Bedeutung der volkswirtschaftl. Entwicklung Berücksichtigung finden, es erschien jedoch ledigl. der 1. Bd. W. und der Nationalver. versuchten 1860–63 die neu aufkeimende dt. Arbeiterbewegung im liberal-demokrat. Lager zu halten und befürworteten auch maßvolle soziale Reformen. Ende 1864 berief ihn der Schweizer Bundesrat zum Dir. des Eidgenöss. Statist. Bureaus (Hrsg. des ersten umfassenden statist. Ber. über die Schweiz); Anfang 1873 trat er zurück und fungierte ab Juni als Leiter des volkswirtschaftl. Tl. der neu gegr. Tagesztg. „Schlesische Presse“. Ab Jänner 1874 arbeitete er bei der „Neuen Freien Presse“ in Wien, wo ihm nach dem Ausscheiden →Josef Neuwirths neben →Theodor Hertzka bald eine leitende Stellung zufiel (so führte er im Wirtschaftstl. einen regelmäßigen Überblick über den europ. Geldmarkt ein). Daneben war er u. a. Wr. Korrespondent des „Economist“, beteiligte sich an der Debatte über die Steuer- und Währungsreform und nahm zu handelspolit. Fragen Stellung. In „Oesterreichs Wiedergeburt …“ (1876) unterbreitete er Vorschläge zur Überwindung der wirtschaftl. Depression nach 1873. 1882 zog sich W., der 1880 die österr. Staatsbürgerschaft angenommen hatte, aus dem Red.betrieb zurück, blieb aber weiterhin publizist. rege. Seine in diversen Unterhaltungsbll. publ. Reisefeuilletons erschienen ausschnittweise in „Cultur- und Wander-Skizzen“ (1876) und „Ernste und frohe Tage …“ (1884). Gem. mit →Gustav v. Leonhardt, Hertzka und →Emil Sax gehörte W. 1875 dem Gründungsausschuss bzw. ständigem Ausschuss der Ges. österr. Volkswirte an.

Weitere W. (s. auch Handwörterbuch): Die Zins-Wucher-Gesetze …, 1856 (gem. m. K. Braun); Die Arbeiterfrage, 1863; Die Hebung der arbeitenden Klassen durch Genossenschaften und Volksbanken, 1865; Die Münzkrisis und die Notenbank-Reform im Dt. Reiche, 1874; Die Reform der Umlaufsmittel im Dt. Reiche, 1875; Die Krisis in der Landwirthschaft …, 1881; Ungarn und seine Bodenschätze, 1885; Die Quellen des Reichtums …, 1886.
L.: Dt. Allg. Ztg., 31. 7. 1856; NFP, 19., 20., 22., AZ, 20. 7. 1900; Biograph. Jb. 5, 1903, S. 37ff.; Eisenberg 1; HLS; Wurzbach; Illustrirte Ztg. 33, 1859, S. 261f. (m. B.); Dt. Rundschau für Geographie und Statistik 22, 1900, S. 571ff.; Geschichte der Frankfurter Ztg. 1856 bis 1906, 1906, s. Reg.; Handwörterbuch der Staatswiss. 8, 4. Aufl. 1928 (m. W.); F. Schnabel, in: Pfalz am Rhein 30, 1957, S. 158ff., O. Frühauf, Bürgerl.-liberale Sozialpolitik 1856–65. Aus dem Frankfurter ‚Arbeitgeber’ von M. und Franz W., phil. Diss. München, 1966; Frankfurter Biographie 2, ed. W. Klötzer, 1996; evang. Pfarre AB Innere Stadt, Wien; UA, Heidelberg, D.
(Th. Venus)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 274ff.
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