Wirtinger, Wilhelm (1865–1945), Mathematiker

Wirtinger Wilhelm, Mathematiker. Geb. Ybbs (Ybbs an der Donau, NÖ), 19. 7. 1865; gest. ebd., 16. 1. 1945; röm.-kath. Sohn des Med.rats und Primararztes Johannes Evangelista W. (geb. Wullersdorf, NÖ, 28. 12. 1826; gest. Ybbs, 21. 4. 1909), des Entdeckers der Typhuskurve, und von Beata W., geb. Powolny (gest. Ybbs, 13. 8. 1895), Vater u. a. des Anatomen Wilhelm W. (geb. Wien, 12. 2. 1893; gest. Kiel, Dt. Reich/D, 2. 3. 1945), der nach seiner Prom. 1918 in Wien als Ass. an der anatom. Lehrkanzel bis in die NS-Zeit mit Eduard Pernkopf v. a. wegen seiner Präparationsfertigkeit zusammenarbeitete (1940 Doz.) und 1944 als Marineass.arzt im Marinelazarett in Kiel eingezogen wurde, und der DI Maria W. (geb. 1894), später Lehrerin an der Landwirtschaftsschule im nö. Hubertendorf; ab 1890 verheiratet mit Amalia (Amalie) W., geb. Feyertag (gest. 1942). – W. besuchte 1875–77 das Benediktinergymn. in Seitenstetten sowie nach einem Schulverweis vier Jahre jenes in Melk, wo sein Interesse für Geometrie geweckt wurde und er in der Stiftsbibl. Arbeiten von Isaac Newton und Leonhard Euler las. Aus disziplinären Gründen wurde er nach St. Pölten versetzt (Matura 1884). Bereits 1883 sandte W. seine erste Abh. „Über die drei algebraischen Flächen umschriebene Regelfläche“ an die k. Akad. der Wiss. in Wien, deren Veröff. sein späterer Lehrer →Emil Weyr jedoch nicht empfahl, da sie für ihn zu gewagte Thesen enthielt. Ab 1884 stud. W. Mathematik an der Univ. Wien, u. a. bei Weyr, →Gustav v. Escherich und →Josef Stefan. 1886 veröff. er zwei Aufsätze („Über rationale Raumkurven vierter Ordnung“, in: Sbb. Wien, math.-nat. Kl. 93, Abt. 2, und „Über die Brennpunktkurve der räumlichen Parabel“, ebd. 94, Abt. 2); 1887 Dr. phil. 1888/89 vertiefte er seine Ausbildung in Berlin bei Karl Weierstraß, Leopold Kronecker und Lazarus Fuchs sowie 1889 in Göttingen bei Felix Klein, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. 1890 habil. er sich an der Univ. Wien für Mathematik, 1891 legte er die Lehramtsprüfung für Gymn. aus Mathematik und Physik ab. 1892–95 prov. Ass. an der TH in Wien bei →Emanuel Czuber, erhielt W. 1895 einen Ruf als ao. Prof. an die Univ. Innsbruck; 1896 o. Prof. u. a. aufgrund seines Aufsatzes zur „Theorie der 2n-fach periodischen Functionen. (1. Abhandlung)“ (in: Monatshe. für Mathematik und Physik 6, 1895), 1902/03 Dekan der phil. Fak. 1903 ging W. als o. Prof. für Mathematik an die Univ. Wien; 1915/16 Dekan der phil. Fak. Ein ihm angetragenes Rektorat lehnte er aus gesundheitl. Gründen jedoch ab. Zu seinen Schülern zählten prakt. alle mathemat. Größen des 19. und 20. Jh., darunter Paul Ehrenfest, Kurt Gödel, →Hans Hahn, Edmund Hlawka, Karl Menger, Richard Edler v. Mises, Erwin Schrödinger, Heinrich Tietze und Leopold Vietoris. Ab 1920 reiste W. nach England, Norwegen, Dtld. und Italien, wo er die dortigen Fachvertreter kennenlernte; 1935 emer. W. zählte zu den bedeutendsten Mathematikern seiner Zeit. Zunächst widmete er sich der synthet. Geometrie, seine Hauptleistungen erbrachte er auf den Gebieten der Funktionentheorie und der Thetafunktionen (seine diesbezügl. Arbeiten waren später in Zusammenhang mit der algebraischen Geometrie von großer Bedeutung und ergaben eine Verbindung zur Quantenmechanik, für seine „Untersuchungen über Thetafunktionen“, 1895, erhielt er den Gustav-Beneke-Preis der phil. Fak. in Göttingen) und lieferte wichtige Beitrr. zur Zahlen- und Gruppentheorie. Er galt aber auch als Spezialist für projektive Geometrie. Berühmt ist W.s „Beitrag zu Riemanns Integrationsmethode für hyperbolische Differentialgleichungen und deren Anwendungen auf Schwingungsprobleme“ (in: Mathemat. Annalen 48, 1897), in dem er den Begriff vom Spektrum der Eigenwerte – er bemühte den Vergleich mit den Spektrallinien des Lichts – einführte. Weiters verbesserte er die Theorie der Kapillarwellen. 1938 konnte er eine Behauptung Sophus Lies über Translationsmannigfaltigkeiten beweisen (Lie-W.-Theorem). In der Mathematik ist sein Name weiters durch die Termini W.-Kalkül, W.-Ungleichung und W.-Präsentierung vertreten, in die Lehrbücher wurde sein Beweis der Eulerschen Summenformel übernommen. Ab 1903 fungierte W. als Mithrsg. der „Monatshefte für Mathematik und Physik“. Zudem publ. er in der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften“ und fungierte als Hrsg. ihres mehrteiligen 2. Bd. „Analysis“ (1899–1927). Mit Max Noether gab er „Bernhard Riemann’s gesammelte mathematische Werke. Nachträge“ (1902) heraus. W. engag. sich auch im Versicherungswesen und beteiligte sich an der wiss. Vereinigung der Privatversicherungsanstalten. Bis 1914 war er Mitgl. des Versicherungsbeirats im Min. des Inneren, die Versicherungsges. Phönix wählte ihn in ihren Verw.R. Darüber hinaus interessierte er sich für phil., philolog. und hist. Fragen, etwa für die griech. Mathematik, aber auch für Astronomie und Technik, und fungierte als Vorstandsmitgl. des Dt. Mus. in München. W. war u. a. ab 1895 k. M., ab 1905 w. M. der k. Akad. der Wiss. in Wien, ab 1906 k. M. der mathemat.-physikal. Kl. der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen, ab 1925 k. M. der Preuß. Akad. der Wiss., ab 1927 k. M. der Accad. Pontificia dei Nuovi Lincei in Rom, ab 1931 k. M. der Bayer. Akad. der Wiss. in München. 1907 erhielt er die Sylvester-Medaille der Londoner Royal Society, 1935 das Komturkreuz des Österr. Verdienstordens; Dr. phil. h. c. der Univ. Christiania (Oslo, 1902) und Innsbruck (1935) sowie 1925 Dr. h. c. der naturwiss. Fak. der Univ. Hamburg; 1920 HR.

Weitere W.: s. Poggendorff; Hornich; Einhorn; Ottowitz. – Teilnachlass: Fachbereichsbibl. Wirtschaftswiss. und Mathematik der Univ. Wien.
L.: NWT, 18. 1. 1945 (Parte); Almanach Wien 95, 1945, S. 336ff. (m. B.); Eisenberg 2; Poggendorff 4–7a (m. W.); H. Hornich, in: Monatshe. für Mathematik 52, 1948, S. 1ff. (m. B. u. W.); Die Fächer Mathematik, Physik und Chemie an der Phil. Fak. zu Innsbruck bis 1945, ed. F. Huter, 1971, s. Reg.; R. Einhorn, Vertreter der Mathematik und Geometrie an den Wr. Hochschulen 1900–40, 1, Diss. Wien, 1985, S. 5ff. (m. W.); A. Dick – G. Stöckl, W. W. (1865–1945), Ybbs an der Donau 1986 (Kat.); N. Ottowitz, Der Mathematikunterricht an der TH in Wien 1815–1918, 2, Diss. Wien, 1992, S. 473ff. (m. B. u. W.); E. Hlawka, in: E. Hlawka, ed. St. Moskaliuk, 2001, S. 267ff.; Ch. Binder, in: Internationale Mathemat. Nachrichten ... 57, 2003, S. 3ff., 8, 10f., 13ff.; M. Epple, in: Science in Context 17, 2004, S. 141, 145f., 152ff., 160; K. Sigmund, in: The Mathematical Intelligencer 26, 2004, S. 22ff., 26f., 29; F. Amin u. a., in: Neural Information Processing, ed. B.-L. Lu u. a., 2011, S. 550ff.; J. Jaroš, in: Applied Mathematics Letters 24, 2011, S. 1389ff.; Lex. bedeutender Mathematiker 5, ed. G. Walz, 2. Aufl. 2017; R. Pires u. a., in: International Journal of Electrical Power & Energy Systems 113, 2019, S. 383ff., 391; ÖAW, UA, beide Wien; Pfarre Ybbs/Donau, NÖ; Dt. Mus., München, D (m. B.).
(M. Pesditschek)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 276f.
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