Wittels, Siegfried (Fritz); Ps. Avicenna (1880–1950), Psychoanalytiker, Mediziner und Schriftsteller

Wittels Siegfried (Fritz), Ps. Avicenna, Psychoanalytiker, Mediziner und Schriftsteller. Geb. Wien, 14. 11. 1880; gest. New York City, NY (USA), 16. 10. 1950; mos. Sohn des Börsenmaklers Rubin Feiwisch W. (1849–1908) und der Charlotte W., geb. Fuchs (1852–1887), ab 1888 Stiefsohn von Malke W., geb. Sadger; ab 1908 mit Yerta W., geb. Pick (gest. 1. 2. 1913), Tochter von →Arnold Pick, ab 1920 mit Lilly W., geb. Krishaber (Scheidung), ab 1947 mit Poldi W., geb. Goetz, verheiratet. – Nach Absolv. der Matura am Maximiliansgymn. 1898 stud. W. Med. an der Univ. Wien; 1904 Dr. med. Danach arbeitete er vier Jahre als Hospitant, Aspirant und schließl. Sekundararzt im Wr. AKH. Nach anfängl. Interesse an der Inneren Med. richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Psychiatrie und →Sigmund Freud, dessen Vorlesungen er ab 1906 hörte. Unter dem Einfluss seiner Beschäftigung mit der entstehenden Psychoanalyse verf. W. Kurzgeschichten und nahm mit der Frage nach Publ.möglichkeiten Kontakt zu →Karl Kraus auf. 1907–08 wurden mehrere Kurzgeschichten und wiss. Aufsätze in Kraus’ Z. „Die Fackel“ abgedruckt. Unter Ps. veröff. W. eine Abh. über Geburtenkontrolle und Abtreibungsverbot, wurde daraufhin in die Psycholog. Mittwochsges. eingeladen und Ende März 1907 auf Vorschlag von →Isidor Sadger, dem Bruder seiner Stiefmutter, einstimmig aufgenommen. 1908 eröffnete W. eine Privatordination in Wien und nahm am 1. psychoanalyt. Kongress in Salzburg teil. Um diese Zeit kam es zum Bruch mit Kraus, der W. aufgrund seiner Haltung Freud gegenüber in der „Fackel“ diffamierte. W. rächte sich mit seinem Schlüsselroman „Ezechiel der Zugereiste“ (1910), einer Satire über Kraus, was zu einem Gerichtsprozess führte und auch W.’ Austritt 1910 aus der Wr. Psychoanalyt. Vereinigung (WPV), der er ab 1906 angehört hatte, begründete. 1910 gab W. seine wenig frequentierte Privatordination wieder auf und wechselte ins Cottage-Sanatorium für Nerven- und Stoffwechselkranke in Währing unter der Leitung des Psychoanalytikers Rudolf v. Urbantschitsch, wo er 15 Jahre als Stationsarzt arbeitete, unterbrochen nur durch seine Militärdienstleistung im 1. Weltkrieg. Ab 1919 beschäftigte sich W. mit sozialen Fragen und schloss sich dem Ver. für allg. Nährpflicht an, der den Gedanken von →Josef Popper nahe stand. 1920 kam es zu einer Begegnung mit →Wilhelm Stekel, der sich mittlerweile von Freud abgewandt hatte. W. begann i. d. F. eine Psychoanalyse bei Stekel, was auch seinen Kontakt zu Freud unterbrach. 1925 beendete W. den Kontakt zu Stekel, wurde durch Freuds Unterstützung 1927 erneut in die WPV aufgenommen, der er bis 1936 angehörte, ins Propagandakomitee gewählt und widmete sich nun der Öffentlichkeitsarbeit für die Psychoanalyse. Er publ. in Fachz. und schrieb 1925–28 vier einschlägige Bücher. 1928 wurde er von der New School for Social Research nach New York eingeladen, wo er in den Folgejahren weitere Gastvorträge hielt und auch vor der New York Psychoanalytic Society sprach. 1932 übersiedelte W. endgültig in die USA und unterrichtete bis 1938 an der New School for Social Research. Darüber hinaus war er an der New York Acad. of Medicine, am New York Psychoanalytic Inst., am Bellevue Hospital der New York Univ. und an der Columbia Univ. tätig. 1940/41 war W. gem. mit einigen anderen Mitgl. des Lehrausschusses der New York Psychoanalytic Society in die Kontroverse um Karen Horneys feminist. Kritik an der Psychoanalyse involviert. Beeindruckend ist die Fülle seiner Publ. Er verf. sowohl psychoanalyt. als auch literar. Werke, wobei letztere nicht überzeugen konnten. Bekanntheit erreichte W. zudem als Autor der ersten unautorisierten Freud-Biographie „Sigmund Freud. Der Mann. Die Lehre. Die Schule“ (1924), die in ihrer unaufgelösten Ambivalenz der Psychoanalyse und Freud gegenüber viele Spannungen erzeugte. 1931 erschien seine zweite Freud-Biographie „Freud and His Time“. 1933 veröff. er als „Revision of a Biography“ (in: Psychoanalytical Review 19 und in: American Journal of Psychology 45) bzw. „Nachtrag zu meinem Buche ‚Sigmund Freudʻ“ (in: Psychoanalyt. Bewegung 5) eine Überarbeitung und Korrektur seiner ersten Freud-Biographie. Bei der letzten persönl. Begegnung beider 1934 wurde deutl., dass es W. auch mit der korrigierten Fassung der Biographie nicht gelungen war, Freuds ungetrübte Zuneigung wiederzugewinnen. W. war Mitgl. der New York Society, der American Psychoanalytic Society und der American Psychiatric Association.

Weitere W.: s. Mühlleitner; Reichmayr; Kory.
L.: Die Presse, 8. 2. 1997 (m. B.); Bolbecher–Kaiser; E. Mühlleitner, Biograph. Lex. der Psychoanalyse, 1992 (m. W.); J. Reichmayr, in: Aus dem Kreis um S. Freud, ed. E. Felder – G. Wittenberger, 1992, S. 166ff.; Freud and the Child Woman, ed. E. Timms, 1996 (m. W.); International Dictionary of Psychoanalysis 3, 2005; B. P. Kory, Im Spannungsfeld zwischen Literatur und Psychoanalyse. Die Auseinandersetzung von K. Kraus, F. W. und St. Zweig mit ... S. Freud, 2007 (m. W.); UA, Wien.
(S. Götz)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 290f.
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