Witzthumb (Vitzthumb), Ignaz (Ignace) (1724–1816), Dirigent, Impresario und Komponist

Witzthumb (Vitzthumb) Ignaz (Ignace), Dirigent, Impresario und Komponist. Geb. Baden (NÖ), 14. 9. 1724 (Taufdatum); gest. Brüssel, Kg.reich der Vereinigten Niederlande (Brussel/Bruxelles, B), 23. 3. 1816; röm.-kath. Sohn von Ignaz W. und Isabella W., Vater des Musikers Paul W. (1761–1838). – 1735 trat W. als Chorknabe in die Brüsseler Hofkapelle von Erzhgn. Maria Elisabeth, Statthalterin der Österr. Niederlande, ein, wo er eine musikal. Ausbildung von Jean-Joseph Fiocco erhielt. 1740 wurde er Hofpaukist; während des Österr. Erbfolgekriegs diente er 1742–48 als Trommler in einem Husarenrgt. Anschließend erwarb er sich Ruhm als Dirigent und Impresario in Brüssel. Er entwickelte seine Kompetenzen in verschiedenen Amateurtheatertruppen; so wirkte er etwa an Auff. der Compagnie Saint-Charles mit, und für Les Concerts bourgeois gab er mit dem Prolog „Le Temple des arts“ (1761) auch seinen Einstand als Theaterkomponist. Ab 1761 war er dem Grand Théâtre am Place de la Monnaie verbunden, zuerst als Dirigent des Kinderchors, 1763–66 und erneut ab 1770 als Orchesterleiter und ab 1772 als Dir. (zusammen mit Louis Compain bis 1775), bis das Theater 1777 wegen Konkurs schließen musste. Während dieser Jahre gestaltete er das Orchester um und hob die Orchesterdisziplin, sorgte sich um das Engagement und die Ausbildung talentvoller Darsteller und führte die beliebtesten Opern aus Paris in Brüssel ein. Entsprechend verlagerte sich der Schwerpunkt des Repertoires vom Sprechtheater hin zu zeitgenöss. Opéras comiques von André-Ernest-Modeste Grétry, François-Joseph Gossec, François-André Danican Philidor und anderen. W.s Leistungen wurden von seinen Zeitgenossen geschätzt. Charles Burney zufolge übertrafen manche Auff. sogar die in Paris. Andererseits rief W.s Gewohnheit, Stücke an den Brüsseler Geschmack anzupassen, den Zorn Grétrys hervor. 1774 geriet das Grand Théâtre in eine finanzielle Notlage, der W. mit zwei Initiativen Einhalt zu gebieten versuchte. Mit dem Drucker Van Ypen begann er in Subskription eine Reihe von populären Opéra-comique-Arien in Bearb. für Vokalstimme, zwei Violinen und Generalbass. Der Erfolg dieser Publ., eine Novität in Brüssel, reichte bis nach Frankreich. 1775 gründete W. auch eine Truppe, die unter dem Namen „spectacles nationaux“ Stücke in niederländ. Sprache, zumeist Übers. von Opéras comiques, in Brüssel aufführte (85 % der Einwohner Brüssels sprachen zu jener Zeit Niederländ.). Die Truppe tourte auch durch Flandern und die Republik der Vereinigten Niederlande. Schon 1768 und 1772 bewarb er sich um ein Privileg für niederländ. Theater in Brüssel; dies scheiterte aber am Widerstand der französ.sprachigen Oberschicht. Intrigen führten zur Auflösung der Truppe 1777, kurz bevor W. selbst in Schuldhaft kam. 1779 zog er nach Gent, wo er (mit drei Mitgl. seiner alten Truppe) das französ. Theater mit Erfolg führte. 1781 übernahm er erneut die musikal. Leitung des Grand Théâtre in Brüssel. Ab 1786 bekleidete er zusätzl. das Hofkapellmeisteramt, das nach dem Tod von Henri-Jacques de Croes vakant geworden war. Er verlor jedoch beide Stellen wegen seiner Teilnahme am Aufstand gegen Joseph II. von 1790; er leitete ein Blasorchester von belg. Patrioten, für die er auch Märsche schrieb. 1791 übernahm er die Leitung des französ. Theaters Le Collège dramatique et lyrique in Amsterdam. Schwer erkrankt, wurde er 1792 von seinem Sohn Paul nach Brüssel zurückgeholt. Über W.s letzte Lebensjahre ist wenig bekannt, doch genoss er noch immer die Hochschätzung seiner Zeitgenossen; 1813 wurde seine Ballettpantomime „La Cohorte d’amour“ am Grand Théâtre in Brüssel aufgef., 1815 ebd. ein Benefizkonzert zu seinen Gunsten organisiert. Ein Komponist von mäßigem Erfolg, erwarb sich W. Meriten v. a. durch seinen Anteil an der Blütezeit der Brüsseler Opernkultur in der zweiten Hälfte des 18. Jh. als Dirigent, Impresario und Opernbearb. Er leistete einen wichtigen Beitr. zur Verbreitung von Opéras comiques in niederländ. Übers. in Flandern und der Republik der Vereinigten Niederlande.

Weitere W.: Le Temple des arts, 1761; La Fausse esclave, 1761; L’Éloge de la vertu ou le Tribut des coeurs, 1761; Le Soldat par amour, 1766; Céphalide ou les Autres mariages samnites, 1777; La Foire de village, 1786; Musik für Blasorchester; Symphonien; Freimaurerlieder; Messen und Motetten; Arienbearb.
L.: Fétis; Grove, 2001; MGG I, II; C. Piot, in: Bulletin de l’Acad. royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique 40, 1875, S. 408ff.; R. Wangermée u. a., in: Le Théâtre de la Monnaie au XVIIIe siècle, 1996, S. XXXIIff., XLIXff., 156ff., 220ff., 288ff.; B. Van Oostveldt, The Théâtre de la Monnaie and Theatre Life in the 18th Century Austrian Netherlands, 2000, S. 81ff., 105ff.; P. Andriessen, in: Een muziekgeschiedenis der Nederlanden, 2001, S. 355ff.; M. Cornaz, in: Art & Fact, 2013, S. 124ff.; Pfarre Baden-St. Stephan, NÖ.
(A. Andries)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 297f.
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